Welch ein Werk! Historiker Yuval Noah Harari geht in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ deutlich weiter zurück, als wir das im Geschichtsunterricht üblicherweise tun. Er beleuchtet, wie sich der Homo Sapiens unter all den verschiedenen Menschenarten durchsetzte, was Landwirtschaft und Industrialisierung mit uns und unserer Wahrnehmung unserer Welt gemacht haben und wie unser Zusammenleben davon beeinflusst wird. Eine umfassende geschichtliche und philosophische Betrachtung des Homo Sapiens.
Inhalt der Rezension
Eine kurze Geschichte der Menschheit, Original Sapiens: A Brief History of Humankind hat mich angesprochen, weil der Blick weiter geht als die Konflikte zwischen verschiedenen Stämmen und später Ländern, weiter geht als das Hervorheben von Feldherren und Erfindern, sondern den Blick auf das richtet, was der Menschenaffe namens Homo Sapiens insgesamt mit sich und seiner Welt tut.
Historiker und Publizist Yuval Noah Harari teilt sein Buch in vier große Abschnitte:
Die kognitive Revolution
Vor vielen hunderttausend Jahren entwickelten sich aus einigen Affenarten eine neue Gattung namens Homo. In unterschiedlichen Regionen der Erde lebten unterschiedliche Arten der Gattung Homo weitgehend isoliert. Irgendwann trat eine Art mit Namen Homo Sapiens auf den Plan – übrigens von uns modernen Menschen ganz selbstverliebt Sapiens genannt: „der weise Mensch“. Der Homo Sapiens ging nicht aus den anderen Menschenarten hervor, sondern war eine weitere Menschenart, die sich die Erde mit den anderen teilte.
Wo der Homo Sapiens auftrat „verschwanden“ in der Zeit von vor 70000 bis 12000 Jahren alle anderen Menschenarten. „Verschwinden“ trifft es nicht ganz, denn es verschwanden nicht die anderen Menschenarten und dann füllte der Homo Sapiens die Lücke, sondern es kam der Homo Sapiens und binnen weniger tausend Jahre war die Konkurrenz ausgerottet.
Auch glauben wir, das menschengemachte Artensterben sei ein neuzeitliches Phänomen. Dem ist nicht so: Der Großteil der an Land lebenden Säugetiere starb immer dort aus, wo sich der Homo Sapiens ausbreitete.
Die kognitive Revolution bezeichnet das Erwachen des Bewusstseins des Menschen in seiner Fähigkeit, sich in größeren Gruppen zu organisieren, was wohl den Anstoß und die Möglichkeit gab, sich derart auszubreiten.
Der Homo Sapiens war von allen Menschenarten weder der geschickteste noch der stärkste, er war nicht am besten körperlich angepasst auf die jeweilige Umgebung, aber er konnte sich am besten organisieren.
Die landwirtschaftliche Revolution
Ein spannendes Kapitel, weil Yuval Noah Harari dem Aufstieg der Landwirtschaft noch einmal einen ganz anderen Dreh gibt.
Nomaden, die durch die Wälder zogen auf der Suche nach Nahrung, und dabei aber auch Handel mit weit entfernten Stämmen trieben, um Metalle und seltene Steine für Werkzeuge, aber auch schon Schmuck zu erhalten, hatten nicht viel, aber alles, was sie brauchten.
Im Vergleich zu den Nomaden arbeiteten die Homo Sapiens in der Landwirtschaft deutlich länger, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie waren dabei weniger gesund und ernährten sich schlechter, hatten schlechtere Zähne. Sklaverei und Kriege in größerem Maßstab brachte erst die landwirtschaftliche Revolution hervor.
Nomaden haben auch Konflikte um die besten Jagdgebiete oder Sammelstellen, können aber immer relativ problemlos weiterziehen. Ein Landwirt ist an sein Land gebunden, kann nicht einfach gehen. Dort sind seine Äcker, sein Haus, sein kompletter Lebensinhalt. Konflikte werden also um Landbesitz ausgetragen, und das erbittert.
Yuval Noah Harari geht weiter und schreibt, die Obsession des Homo Sapiens mit der Landwirtschaft, vor allem mit dem Getreide Weizen und seinen Varianten, ginge so weit, dass man sagen könne, das Getreide habe den Menschen domestiziert. Denn weltweit sind Getreide großflächig angebaut, während der Mensch eben nicht unbedingt davon im Vergleich zum Nomadentum im selben Maße profitierte.
Was Landwirtschaft auch notwendig machte, ist Schrift. Eine kurze Geschichte der Menschheit erzählt von der Schrift als notwendiges Mittel, um Landbesitz zu dokumentieren und Schulden und Transaktionen niederzulegen.
Yuval Noah Harari schreibt, dass die Erfindung der Schrift nur der erste wichtige Schritt zur Hochkultur gewesen sei. Doch – und er schildert das sehr anschaulich – wie konnten zwei Streitende in Babylon in der großen Besitz- und Steueraufzeichnungs-Bibliothek denn die richtigen Tontafeln finden oder durch den Bibliothekar finden lassen?
Dafür braucht es eine Ablagesystematik, und eine Methode, Änderungen zu kennzeichnen und sicherzustellen, dass immer bekannt ist, was die aktuellste und gültige Information ist. Laut Harari ist somit Bürokratie die zweite wichtige Errungenschaft, die eine Hochkultur überhaupt erst möglich macht. Das ist mehr als dreitausend Jahre her.
Die Vereinigung der Menschheit
Was wir heute als vermeintlich originäre kulturelle Eigenheiten wahrnehmen, sind in Wahrheit das Resultat vieler Vermischungen und imperialer Einverleibungen. Weder erfanden Inder das Curry, noch ritten nordamerikanische Indianer vor Ankunft der Europäer Pferd, noch grasten in Argentinien Rinder.
Während wir hauptsächlich die Unterschiede zwischen Nationen und Völkern wahrnehmen, übersehen wir, dass in den letzten zweieinhalb Tausend Jahren immer mehr Teile der Erde derselben grundsätzlichen Kultur anheim fielen, die wir heute noch haben: fast alle nutzen Geld in irgend einer Form, und fast alle Menschen leben in Nationalstaaten. Auch verfeindete Ethnien und Nationen machen miteinander Geschäfte. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind wie unterschiedliche Ausprägungen des gleichen Grundgedanken.
Imperien hatten daran einen großen Anteil. Sie verleibten sich immer neue Völker ein und vermischten Kulturen. Das ist nicht nett, ging oft nicht ohne Blutvergießen ab, und trug doch zu dem bei, was wir heute als typisch für irgendeine Region empfinden. Tomaten in Italien, Kartoffeln in Deutschland und Polen, und so weiter. Die Sprachen Mittel- und Westeuropas, die alle die lateinische Schrift verwenden und viele der Wörter.
Alle Imperien gaben zu jeder Zeit vor, auch zum Besten der Unterworfenen zu handeln, egal ob dies Wirtschaftswohlstand, Kommunismus oder Demokratie war und ist. In neuerer Zeit ist festzustellen, dass einst souveräne Nationalstaaten gar nicht mehr so souverän sind, da ihre Wirtschaftssysteme so sehr voneinander abhängen, dass Gesetzgebung in den Grenzen eines Landes gar nicht mehr unbedingt effektiv ist.
Religionen schließlich tragen einen ähnlich großen Anteil an der Vereinigung der Menschheit wie Imperien. Brachten auch sie viele Menschen verschiedener Herkunft in Austausch, auch hier oft nicht friedlich, aber eben doch in Austausch. Außerdem sind Religionen das, was Harari intersubjektive Ideen nennt: Religionen glauben an eine übermenschliche Ordnung und daraus resultierende Normen und Werte.
Leider machten in der Geschichte die monotheistischen Religionen stets sehr viel umfassend von Gewalt Gebrauch als polytheistische Religionen, mit der Folge, dass zwei der großen Weltreligionen – Christentum und Islam – eben monotheistisch sind.
Auch moderne Religionen, die sich Ideologien nennen, bespricht Harari: Humanismus, Liberalismus, Sozialismus, und noch einige mehr. Humanismus ist der Glaube, dass der Mensch etwas ganz besonderes und außergewöhnliches sei und deshalb mehr Rechte als alle anderen Lebewesen habe, und außerdem als einziges Lebewesen den freien Willen besitze. Das wiederum wird durch neuere Forschungen ebenfalls in Frage gestellt.
Die wissenschaftliche Revolution
Vor einige hundert bis tausend Jahren ist die wissenschaftliche Revolution zu verorten. Zwar wurden auch schon viel früher Sterne beobachtet und Kalender aufgestellt, doch meist, um landwirtschaftliche Planung betreiben zu können, oder zu See um navigieren zu können.
Neu war, dass der Mensch Dinge untersuchte, einfach weil es ihn interessierte und weil er seine Unwissenheit erkannte und anerkannte. Zumindest einen Teil der Menschen. Für andere wiederum hatten diese Erkenntnisse direkten Wert. Die Erkundungsfahrten seit dem späten fünfzehnten Jahrhundert – Kolumbus, Amerika – und besonders auch die des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts waren in erster Linie Militärexpeditionen, bei denen aber eben auch Geologen und Biologen dabei waren.
So entstanden mehrere Effekte: Die Expeditionen brachten Zivilisation in entlegene und vermeintlich unzivilisierte Regionen – wohl nirgendwo wirklich zutreffend – und daheim konnte man den wissenschaftlichen Anteil der Expedition als solchen feiern. Der andere Effekt war der Aufstieg der Unternehmen. Während frühe Expeditionen noch von der Gunst des Königs abhingen und dessen Wunsch, Kolonien zu besetzen, waren es bald (ab dem 17. Jahrhundert) Unternehmen wie die Niederländische Ostindien-Kompanie und die Britische Ostindien-Kompanie, die im Namen von Handel ganze Länder überfielen.
Harari schreibt folgerichtig, kontextfreie Erkundung und Wissenschaft wäre ein Wunschtraum, faktisch müsse das ja immer jemand finanzieren, und diejenigen hätten eben Interessen.
Hararis weitreichende Gedanken
Was ich ganz bemerkenswert fand, ist das Konzept der intersubjektiven Einbildung. Während eine Einbildung oft als etwas gesehen wird, das eben ein ganz bestimmter Mensch hat, bezeichnet intersubjektive Einbildung diejenigen, die von vielen Menschen gleichermaßen akzeptiert werden.
Harari sieht darin einen wesentlichen Entwicklungsschritt des Menschen, der uns erst zu der weitreichenden Kooperation befähigte, die uns eben in die Position brachte, die wir in der Nahrungskette nun innehaben.
Beispiele für intersubjektive Einbildung sind Religionen – jemand erzählt, es gäbe ein übernatürliches Wesen mit genau definierten Eigenschaften, und andere glauben es –, Staaten – ebenfalls eine Idee, die nur durch Anerkennung anderer funktioniert, inklusive der Idee „Geld“ –, und Unternehmen – eine Idee, die ja wiederum nur funktioniert, wenn es viele glauben. Die Grundfesten unseres modernen Zusammenlebens funktionieren also nur dann, wenn einige Ideen intersubjektiv verankert sind, also von den meisten Menschen ebenfalls geglaubt werden.
Es war mir nicht mehr oder nicht so oder gar nicht bewusst, dass lange vor unserer modernen Zeit der Mensch schon ein größeres Artensterben verursachte, und dieses auch die anderen Menschenarten tilgte. Die Prädisposition von uns Menschen scheint eine ganz und gar absolutistische zu sein, ein Wesen, das keinerlei Konkurrenz duldet.
Mitten im Buch, am Ende des Teils über die Vereinigung der Menschheit, hat Harari zwei ganz wichtige Eigenschaften von Geschichte im allgemeinen niedergeschrieben:
- „Die Geschichte lässt sich nicht im Rückblick erklären.“ Wir können immer nur sehen, was geschehen ist, nicht jedoch eindeutig klären warum. Damit gibt es keinen Determinismus, keine Ereigniskette in der Geschichte musste unbedingt so laufen, es hätte immer auch anders kommen können.
- „Die Geschichte schert sich nicht um den Menschen.“ Keine Kultur, in der Geschichte hat den Zweck, dem Menschen zu nützen. Kulturen sind eher wie Meme, die ähnlich Parasiten lediglich ihr eigenes Fortbestehen sichern, auch auf Kosten des Wirtes.
Das ist für mich ganz zentral: Nicht muss unbedingt so sein, und nichts in der größeren menschlichen Kultur ist für jemanden da. Dennoch können und sollten wir versuchen, aus beidem das Beste zu machen.
Spannende Lektüre
Yuval Noah Hararis Buch Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit genoss ich das erste Mal als Hörbuch. Als ich es im Auto hörte, während ich meine großen Kinder vom Sport abholte, wollte ich es schon wegschalten, doch die Kinder protestierten: „Laß das, das ist super spannend!“
Und so war es seitdem, wann immer ich mit ihnen im Auto fuhr, sollte ich Yuval Noah Harari einschalten. Folgerichtig bekam es der dreizehnjährige auch gedruckt – nicht ohne Hintergedanke – und ward nicht mehr gesehen.
Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit, im Original Sapiens: A Brief History of Humankind ist aber auch wirklich spannend. Nicht einzelne Episoden aus der jüngeren Geschichte, sondern die Muster die sich ergeben. Verhaltensweisen, die immer und immer wieder auftauchen und den Menschen anscheinend ausmachen.
Yuval Noah Harari nimmt alles auseinander. Unternehmen, Landwirtschaft, Religionen, Kultur. Man mag ihm vorhalten, er würde Dinge überaus negativ sehen, doch das empfinde ich nicht so. Er trägt Fakten und Muster zusammen, interpretiert wohl, aber nicht anklagend. Das Gefühl des Negativen kann sich bisweilen deshalb einstellen, weil Harari eben den Blick auch auf die weniger angenehmen Seite von Kapitalismus, Landwirtschaft, Kultur und der Religion lenkt.
So gesehen setzt sein Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit auch die ökologischen Missetaten des Homo Sapiens der Neuzeit in Relation zu dem, was wir schon früher verursachten. Nicht dass es das besser machen würde, doch es erklärt zumindest einiges.
Schreibstil und Kritik
Yuval Noah Harari schreibt dynamisch und anschaulich. Die Übersetzung von Jürgen Neubauer ist sehr ordentlich und lässt vergessen, dass Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit mit über fünfhundert Seiten schon ein umfangreiches Werk ist.
Man mag Harari vorwerfen, bisweilen der sprachlichen Prägnanz und Anschaulichkeit eine geschichtliche Präzision zu opfern – so wie das einige Rezensenten tun. Dem Gesamtwerk tut das meinem Empfinden nach keinen Abbruch, und auch nicht der Botschaft an den Leser, man möge doch ab und an nachdenken, warum wir eigentlich tun, was wir tun.
Harari beschreitet ein weites Feld, sowohl zeitlich als auch thematisch gesehen. Meinem Empfinden nach vermag er es wunderbar, die Themen interessant und anschaulich zu präsentieren, Beispiele und Analogien zu geben und seine Schlüsse daraus zu ziehen.
Layout und Audio
Das Layout der broschierten deutschen Ausgabe von Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit ist sauber, unaufgeregt gesetzt mit ordentlichem Satzspiegel.
Das deutsche Hörbuch von Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit wird von Jürgen Holdorf ganz ausgezeichnet gesprochen, den Leser dieses Blogs vielleicht schon in „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman gehört haben. Mit gut fünfzehn Stunden Laufzeit ist man eine ganze Weile unterwegs. Was beim Hörbuch etwas negativ auffällt ist die unterschiedliche Lautstärke in unterschiedlichen Aufnahmesegmenten. So fängt Holdorf zu Beginn einer Aufnahme meist sanft und etwas leiser an, und spricht sich dann im Verlauf des Kapitels warm und auch in Rage. Da hätte ich mir vom Hörbuchverlag etwas mehr Sorgfalt beim Schnitt gewünscht.
Die englische Originalausgabe des Hörbuches von Sapiens: A Brief History of Humankind spricht Derek Perkins in feinstem britischem Englisch, ganz wunderbar verständlich.
Yuval Noah Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ ist meine uneingeschränkte Leseempfehlung.
Photo: Joachim Schlosser, License Creative Commons Attribution Share-Alike
Schreiben Sie einen Kommentar