Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Hindernisse, Stoa und Paarbeziehung: The Obstacle is the Way

Stoizismus. Stoa. Wie auch immer Sie es nennen wollen. Die Kunst, den Augenblick anzunehmen und die Schwierigkeiten, die vor uns liegen. Ryan Holiday bringt diese Denkweise in den Kontext unserer modernen Welt in »The Obstacle Is the Way: The Timeless Art of Turning Trials into Triumph«. Was das ganze mit Ehe zu tun hat, lesen Sie hier.

Schon der Titel »Das Hindernis ist der Weg« sprach mich an – ebenso wie dann der Inhalt – weil ich mangels Lateinunterricht mit den Lehren von Seneca und Marcus Aurelius nur sehr am Rande in Berührung kam, aber dank Meditation die Akzeptanz dessen, was ist, zu einem wichtigen Konzept für mich wurde.

Lernen aus Schwierigkeiten

Ryan Holiday bringt es bereits zu Anfang auf den Punkt: Schwierigkeiten, Hindernisse bergen immense Chancen für uns.

Die Chancen bieten sich dem, der mental darauf vorbereitet ist und auf konstruktive Weise mit Schwierigkeiten umgeht.

Schwierigkeiten können uns transformieren, wenn wir sie nutzen. Dabei geht es nicht um das Verleugnen von Realität, oder überschäumenden Optimismus. Schlechte Erfahrungen sind zunächst einmal das: schlechte Erfahrungen. Aber eben auch Erfahrungen, und Möglichkeit, daraus zu lernen.

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Es geht nicht um den Gedanken »das ist gar nicht so schlecht«, sondern »ich kann das besser machen«.

Eine schlechte Ausgangsposition bietet damit viele Möglichkeiten, eben genau deshalb etwas anders zu tun.

Hindernisse wahrnehmen, nicht beurteilen

»Das ist geschehen« ist eine Beobachtung. »Das ist schlecht« ist eine Wahrnehmung, eine Beurteilung der Beobachtung. Ersteres ist hilfreich, letzteres nicht.

In der Ausbildung von Jetpiloten, Astronauten und Soldaten besteht ein großer Teil darin, Panik bzw. panische Reaktion abzutrainieren. Instinktive, untrainierte Reaktion Geht oftmals in die falsche Richtung. Im Beispiel nennt Ryan Holiday das Wildtier, das ein lautes Geräusch hört und instinktiv losrennt – geradewegs auf die Straße.

Im Angesicht von Widrigkeiten müssen wir daher lernen, uns immer eines vor Augen zu halten: Wir werden daran nicht sterben.

Der Kunde droht mit Auftragskündigung? Der Chef lädt immer neue Arbeit bei Ihnen ab? Ein wichtiger Mitarbeiter kündigt? Sie werden daran nicht sterben. Jegliche Panik ist überflüssig. Unser Kleinhirn und Stammhirn schütten in unvorhergesehenen oder subjektiv schlechten Situationen jede Menge Hormone aus, die entweder Angriff, Flucht oder Totstellen bedeuten. Je mehr solche Situationen wir erlebt haben, und je öfter wir festgestellt haben, dass wir daran nicht gestorben sind, desto eher kommen wir in die Lage, Ruhe zu bewahren.

Das heißt nicht, dass wir keine Emotion empfinden dürfen. Das Gefühl von Angst oder Ärger ist in Ordnung. Ryan Holiday betont das stoische Prinzip, sich das Gefühl zu betrachten, und es dann entschwinden zu lassen, da es nichts zur Lösung beiträgt.

Was ist in der jeweiligen Situation das allerschlimmste, was daraus erwachsen kann? Selbst die allerschlimmste Konsequenz ist selten wirklich bedrohlich. Unbequem: ja. Lebensbedrohlich: nein.

Im Moment bleiben

Beim Auftreten eines Problems, einer Schwierigkeit, eines Hindernisses oder einer Katastrophe gilt Marcus Aurelius’ Mantra:

»Objektives Urteil. Genau in diesem Moment.
Selbstlose Handlung. Genau in diesem Moment.
Bereitwillige Akzeptanz. Genau in diesem Moment, aller externer Ereignisse.«
(Marcus Aurelius)

»Objective judgment, now at this very moment.
Unselfish action, now at this very moment.
Willing acceptance—now at this very moment—of all external events.«
(Marcus Aurelius)

(Marcus Aurelius)

Indem wir im Moment bleiben, und ruhig das beobachten, was ist, können wir entscheiden, was wir in diesem Moment tatsächlich tun können.

Manchmal ist das nicht viel, außer die Situation als solche zunächst einmal anzunehmen.

Widerstand als Hinweis auf andere Perspektiven

Ein scheinbar unüberwindliches Hindernis kann ein Hinweis sein, dass wir das Problem aus der falschen Perspektive wahrnehmen.

Wenn wir erstarren im Anblick der Situation, können wir den Blick nicht wenden auf mögliche Lösungen. Wir suchen nach Gründen, nach Entschuldigung, nach dem, was alles nicht funktioniert und wo die Schuldigen zu suchen wären.

Oder wir blicken auf all das zurück, was an unserem Ansatz nicht funktioniert hat und rückblickend gar nicht funktionieren kann.

Besser: auf andere Lösungsmöglichkeiten blicken.

Hier sei mir ein Hinweis auf ein anderes Buch erlaubt, das lehrt, einen anderen Blick auf scheinbare Hindernisse und Nachteile zu legen: David und Goliath, von Malcolm Gladwell. Was ist die Chance in diesem Hindernis? Was kann ich tun gerade weil es im Moment nicht weiter geht? Was kann ich sehen gerade weil ich am Boden liege?

»Probleme sind genau so schlecht wie wir sie sehen.«

Handlung statt Agonie

Nach einem Moment des Innehaltens, in dem wir auch den Schmerz des Hindernisses spüren dürfen, ist es wichtig, ins Handeln zu kommen.

»Menschen, die etwas verändern, handeln. Auch wenn die Umstände unfair, nicht ideal sind.«

»Fang an, wieder etwas zu tun,« ruft uns Ryan Holiday zu. Wer im Angesicht von Schwierigkeiten handelt, tut schon mehr als die meisten anderen, schreibt er.

Wer in Bewegung bleibt, der kann mit Schwierigkeiten umgehen. Indem wir neue Sichtweisen auf das Problem einnehmen, das Problem teilen, umgehen, oder zu unserem Vorteil nutzen. Etwas Neues ausprobieren, das bislang noch niemand versucht hat.

Es gewinnt nicht der, der auf keine Schwierigkeiten stößt (denn das gibt es nicht), sondern derjenige, der am längsten durchhält.

Nicht aufgeben

»Niemals aufgeben. Einen Weg verlassen, um einen anderen einzuschlagen: ja.«

Wenn es einfach wäre, würde es jeder tun, und das Problem wäre keines. Also geht es darum dran zu bleiben.

»Niemals in Eile.
Niemals ängstlich.
Niemals verzweifelt.
Niemals verfrüht anhalten.«

»Never in a hurry.
Never worried.
Never desperate.
Never stopping short.«

Das Prinzip des Epikur: »Beharren und standhalten.«

Fehler sind unvermeidlich, und aus Fehlern können wir lernen. Ryan Holiday listet viele Beispiele auf, aus Militärwesen, aus Unternehmertum und aus dem Bereich der Wissenschaft. Keine Fähigkeit – weder von Einzelpersonen noch von Organisationen – wird ohne Fehler erworben.

Also dürfen uns Fehler und die daraus erfolgenden Fehlschläge nicht entmutigen. Ein Schritt nach dem anderen.

Negatives Antizipieren

Das schlimmste erwarten, das beste erhoffen, so zitiert Ryan Holiday ein altes Sprichwort. So trifft eine Schwierigkeit den am härtesten, der nicht auf Probleme vorbereitet ist und sich vorab keine Gedanken gemacht hat.

Um ganz im Moment bleiben zu können, wenn es schwierig und unangenehm wird, brauchen wir Vorbereitung. Alle Probleme, die wir bereits vordenken können, werden uns weniger überraschen.

Das heißt nicht, dass wir auf alle Eventualitäten schon vorab eine Antwort haben müssen. Jedoch heißt es, sich bewusst zu sein, dass es zu Problemen kommen wird. Welcher Art auch immer, Probleme werden auftreten.

Das Glück trifft den Vorbereiteten.

Auf lange Sicht sind die meisten Probleme zu vernachlässigen. Das bedeutet nicht, dass sie in der Situation angenehm oder einfach zu bewältigen sind, oder sich gar von selbst in Luft auflösen. Jedoch hilft uns die langfristige Perspektive, momentane Probleme als genau das anzusehen: momentan auftretende Schwierigkeiten, die es durchzustehen gilt.

Wenn sonst nichts hilft, dann können wir uns immer noch bewusst machen, dass das Hindernis eine Trainingseinheit für unsere Willensstärke darstellt.

Nach dem Hindernis kommt das nächste Hindernis

Wer eine Schwierigkeit durchgestanden hat, wird bald feststellen, dass diese nicht die letzte im Projekt oder im Leben war.

Nach einem Hindernis tut sich das nächste auf. Je besser wir mit den Hindernissen umgehen können, die sich uns in den Weg legen, desto größer und schwieriger werden die Hindernisse werden, weil wir den Weg entsprechend unseren Fähigkeiten wählen können.

Probleme hören nie auf. Doch die Schwierigkeiten, die uns größer machen, finden wir, indem wir jede Schwierigkeit, eine nach der anderen, durchstehen und Lösungen dafür finden.

Ein Leben ohne Schwierigkeiten bedeutet Stagnation, keine Entwicklung von Fähigkeiten.

Wahrnehmen, Handeln, Durchhalten

Wahrnehmen, Handeln, Durchhalten. Stoa als praktische Lebenshilfe.

Zusammen mit der Praxis der Meditation (siehe Artikel über Meditation) ergibt sich für mich ein sehr gute Praxis, mit den Wogen des Lebens umzugehen.

Ryan Holiday ist ja nicht der erste Autor der letzten Jahrzehnte, der Elemente der Stoa betont.

Stephen Covey hat in seinen Sieben Wegen zur Effektivität mehrere Praktiken, die sich auf genau die hier beschriebene Weise, mit Schwierigkeiten umzugehen, zurückführen lassen: Proaktiv sein nimmt den Hinweis auf, in jeder Situation zu analysieren, was wir selbst in diesem Moment tun können. Erst verstehen, dann verstanden werden bezieht sich auf die eigene Wahrnehmung und Bereitschaft, eine Situation anzunehmen. Die Säge schärfen weist auf die Notwendigkeit hin, sich auf zukünftige Entwicklungen vorzubereiten und seine Fähigkeiten zu vervollkommnen.

Ein weiteres Konzept, das auf Stoa basiert, ist Scrum, hervorragend beschrieben in Scrum: Die Scrum-Revolution: Management mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten Unternehmen von Jeff Sutherland. Scrum lehrt uns, immer einen Schritt nach dem anderen zu gehen, an der Sache dran zu bleiben. Der Prozess zur Bewältigung ist das, was alles zusammenhält, und die kontinuierliche Verbesserung der Fähigkeiten des Teams und der Teammitglieder verbessert mit jeder Iteration das Ergebnis.

Auch wenn es um Entscheidungen geht, wie in Decisive von Chip & Dan Heath sind Elemente der Stoa enthalten: Die Empfehlung ist, jeweils die Fragestellung von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten. Auch das Konzept, Fehlschläge zu antizipieren und schon vorab zu bestimmen, was einen zukünftigen Fehlschlag verursacht haben könnte, und die Möglichkeit anzuerkennen, hilft, Erwartungen und Vorbereitungen zu setzen.

Stoa und Beziehung

Auf den ersten Blick könnte dies ein Buch sein, wie wir im Geschäftsleben und im Beruf zum Erfolg im Angesicht von Widerstand finden.

Und mit Sicherheit ist das ein Anwendungsgebiet von The Obstacle is the Way. Jeden Tag stoßen wir in der Arbeit auf Schwierigkeiten. Jeden Tag, an dem wir uns davon nicht entmutigen lassen und weiter voran schreiten, ist ein guter Tag.

Doch auch im Privaten bietet der Stoizismus von The Obstacle is the Way viel Erkenntnis.

Meine Frau Julia und ich sind nun seit über 18 Jahren ein Paar, seit über 11 Jahren verheiratet. Das ist kein Spaziergang. Wir haben uns zusammengerauft, und tun das immer noch. Wir wachsen aneinander und an den Schwierigkeiten, die sich uns auftun.

Viele Menschen in unserem Alter kommen leider nicht bis zu diesem Punkt. Sie haben vor langer Zeit aufgegeben, sich von einem Partner getrennt, weil Schwierigkeiten unüberwindbar erschienen. Sind oder waren mit dem nächsten Partner zusammen, nur um auf ähnliche oder die gleichen Schwierigkeiten zu stoßen. Denen sie dann oft wieder ausweichen und wieder die Beziehung beenden, anstatt durchzugehen, gemeinsam.

Wir sind in unserer Beziehung, unserer Ehe da, wo wir sind, gerade weil wir durch Schwierigkeiten und Probleme gingen, uns durcharbeiteten, manchen Streit durchfochten. Viele Erkenntnisse gewannen wir nur weil wir Hindernisse überwanden, die die Erkenntnis ermöglichten.

Ist das einfach? Nein. Ein Spaziergang? Mitnichten. Fühlen wir uns einander näher als je zuvor? Ja, in jeder Hinsicht.

Audio

Mit gut sechs Stunden Hörzeit ist das Hörbuch zu The Obstacle Is The Way gut in wenigen Sitzungen durchzuhören. Der Autor spricht selbst, und das in einer Geschwindigkeit und Betonung, die es auch dem ungeübten Englisch-Hörer leicht machen dürften, alles zu verstehen. Ryan Holiday schreibt und spricht gut verständliches Englisch, ohne starken Akzent. Schnellhörer können hier gut auf dreifach hochregeln.

Schreibstil und Kritik

»The Obstacle Is the Way: The Timeless Art of Turning Trials into Triumph« ist ein gutes, typisch amerikanisches Non-Fiction-Buch: Locker und dynamisch geschrieben, mit vielen Geschichten, die den jeweils nachfolgenden Punkt veranschaulichen.

Wer die Werke des römischen Kaisers Marc Aurel, oder der Philosophen Epikur oder Seneca gelesen hat – sei es im Original im Lateinunterricht oder eben später in einer Übersetzung – der wird inhaltlich nicht viel Neues erfahren.

Auch sonst: Wenn man es recht bedenkt, es das Konzept, in Schwierigkeiten immer die Möglichkeit und den Weg zu suchen, sehr allgemeingültig und sehr direkt auch selbst zu finden – wenn man es denn kann.

The Obstacle Is The Way fällt damit in die Kategorie Buch, zu der meine Gattin Julia meint: Da musst du ein Buch dafür lesen? Ist das nicht eh klar?

Dennoch, oder gerade deswegen finde ich Ryan Holidays Buch so nützlich. Es geht nicht darum, möglichst innovative und komplexe Konzepte zur Lebensbewältigung einzuführen. Was er liefert, ist ja jahrtausendelang erprobt: Ein Konzept der Stoiker.

Packen wir’s an. Immer eins nach dem anderen.

Und wie gehen Sie Schwierigkeiten und Probleme an? Was sind Ihre Gedanken zu den Konzepten aus Ryan Holidays Buch?

Lassen Sie die anderen Leser ebenso wie mich teilhaben an Ihren Gedanken und kommentieren Sie!

Photo: Courtesy Death To The Stockphoto

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