Ich stelle ja bisweilen Leute ein, früher als Technische Spezialisten im Vertrieb, dann im Industriemarketing für Organisationsweite Softwareeinführung, und jetzt gerade im Consulting. Warum lasse ich Bewerber einen Probevortrag halten? 14 Gründe.
Bewerber dürfen einen Kurzvortrag halten, zu einem selbst gewählten Thema. Das darf auch gerne eine Präsentation sein, die diese schon einmal woanders gehalten haben. Es brauchen auch keine neuen Folien zu sein. Und mit einer Gesamtdauer von 20 Minuten, inklusive maximal fünf Minuten für eine Selbstvorstellung.
Warum macht der Schlosser das? Wo wir doch einen Bewerbermarkt haben! So viel Arbeit für den Bewerber, warum sollte das jemand machen? Sie machen es. Und wie sie es tun, hilft mir so viel.
Die Probepräsentation hat Vorteile für mich und die Bewerber, und zwar mindestens die folgenden. (Ich schreibe von der Bewerber, was die Rollenbeschreibung unabhängig vom biologischen Geschlecht angibt.)
- Dadurch, dass ich dem Bewerber anbiete bzw. durch die Personalabteilung, die ja einlädt, anbieten lasse, mir vorab das Thema und Folien zur Ansicht und Rückmeldung zu schicken, erfahre ich, ob und wie dieser reagiert.
- Aus dem vorgeschlagenen Thema und eventuell den Folien sehe ich, was jemand schon getan hat, und wo sie eventuell Schwerpunkte legt.
- Aus der Formulierung des Themas lerne ich über die Art des Kandidaten, zu formulieren. Wie ist der Bezug des Themas zur Person? Ist der Titel eher allgemein, oder lässt sich ein konkretes Beispiel erahnen?
- Aus den Folienentwürfen erkenne ich Gedankengänge und wie stark Abstraktionsfähigkeit und Anschaulichkeit ausgeprägt ist.
- Der Bewerber bekommt von mir Feedback zum Thema und Hinweise zu den Folien in Sachen Fokus, Zeitaufteilung, und damit quasi ein kostenloses kleines Vortragscoaching. Dafür nehme ich mir Zeit.
- Falls eine Reaktion auf meine Rückmeldung kommt, sehe ich, wie diese ausfällt. Wie werden Fragen, Hinweise und Tipps aufgenommen?
- Im Vortrag sehe ich, ob und wie meine Rückmeldung und Tipps aufgenommen und umgesetzt wurden. Dadurch sehe ich, welche Art von Zusammenarbeit ich zu erwarten habe.
- Zu Beginn des Vortrags stellt der Bewerber ein paar Minuten lang das Wichtigste aus dem Werdegang vor. Dadurch sehe ich, was ihr wichtig ist, da die Zeit zu kurz ist für eine komplette Biografie.
- Der Bewerber zeigt, wie er mit Vortragszeit umgeht, sowohl in Gesamtzeit als auch Aufteilung.
- Im fachlichen Teil des Vortrags höre ich, wie der Bewerber erklärt und einführt, ich sehe Beispiele und wie anschaulich diese sind.
- Der Bewerber lernt im Rahmen des Vortrags noch weitere Kollegen kennen, die sich den Vortrag ebenfalls anhören.
- Der Bewerber erfährt, was Leute für Fragen zum Vortrag haben, die nicht unbedingt aus exakt demselben Thema kommen, weil ich explizit Zwischenfrage erlaube, stelle und dazu ermuntere.
- Ich sehe, wie der Bewerber auf Zwischenfragen reagiert. Ganz wichtig. Wie geht sie mit Unterbrechungen der Argumentationskette um? Wie erklärt sie Dinge, die ihr selbstverständlich erscheinen? Wie findet sie wieder zurück zum roten Faden?
- Ich höre, wie der Bewerber rhetorisch drauf ist. Wir alle wollen immer authentische Leute, doch unfallfrei sprechen ist eine Eigenschaft, die ich gerne auch angelernt nehme.
Viele der Erkenntnisse, die ich aus dem Prozess des Probevortrags gewinne, lassen sich nicht in richtig oder falsch einordnen. Es gibt nur wenige falsche, aber viele richtige Wege, deren Zusammenwirken für mich das ganze Bild ergeben, das ich dem eigentlichen Vorstellungsgespräch hinzufüge.
Bisweilen hatte ich Bewerber, die nach dem Vortrag feststellten, das wäre ja nun nicht unbedingt das ihre. Vor allem die Zwischenfragen bringen manche gehörig aus dem Konzept, reflektieren jedoch nur das, was uns bei Kunden erwarten kann.
Es geht mir um eine wertschätzende Interaktion. Selbst wenn Bewerber und Job nicht zusammen kommen, ist der Probevortrag eine Interaktion, die hoffentlich sowohl Bewerber als auch mich voran brachte, uns als Menschen eine gute Erinnerung gibt und das Ansehen der Firma stärkt. Egal, ob wir zusammen kommen oder nicht: Wir haben mit hoher Wahrscheinlichkeit eine fruchtbare Fachdiskussion geführt, beide etwas gelernt – ich etwas über das Thema und der Bewerber etwas über andere Perspektiven darauf.
Auch ein Bewerber, der letztendlich kein Jobangebot bekommt oder will, hat das Vortragscoaching bekommen und kann die Tipps entweder vergessen oder beim nächsten Mal anwenden. Und ein Bewerber, der bei mir anfängt, weiß schon vorher, welche Art Mensch ihn erwartet.
Wie siehst du das? Lasse mich und die anderen Leser daran teilhaben – schreibe mir und kommentiere gleich unten.
Foto: www.joachimschlosser.de
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