Projekte funktionieren oder scheitern selten allein aus technischen Gründen. Der Erfolg von Projekten ‒ besonders von Softwareprojekten ‒ hängt von den Menschen ab, die an dem Projekt arbeiten. Und wo Menschen zusammen arbeiten, wirken Denkmodelle, Gewohnheiten, Gefühle und Hormone auf den Erfolg oder Misserfolg. Peter Siwon, einigen bekannt als Glossist für die Elektronik Praxis und als Kopf hinter dem »Embedded Software Engineering Kongress«, hat ein Buch darüber geschrieben: Die menschliche Seite des Projekterfolgs: Was Softwerker über (verborgene) Denkautomatismen und -modelle in der Projektarbeit wissen müssen.
Verhaltensregler und Modelle im Kopf
Die menschliche Seite des Projekterfolgs: Was Softwerker über (verborgene) Denkautomatismen und -modelle in der Projektarbeit wissen müssen
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Peter Siwon beginnt »Die menschliche Seite des Projekterfolgs« mit einer Einführung ins unbewusste und bewusste Denken. Das Konzept des Verhaltensreglers, der darauf hinzielt, die Bedürfnisse der Person zu erfüllen, ist dabei bewusst mechanistisch gewählt, damit es für mich »Softwareingenieur« als Zielgruppe des Buches auch verständlich wird. Der Verhaltensregler erkennt also eine Abweichung zwischen Ist-Zustand und Soll-Zustand und stößt daraufhin entsprechende physische Aktionen des Körpers an. Siwons Beispiele von Zittern bis Reise buchen sind unterhaltsam und abwechslungsreich.
Um überhaupt einen Eindruck von Soll- und Ist-Zustand zu bekommen, haben wir unsere Sinne. Diese erkennen freilich nicht die Realität, sondern bilden ein Modell der Realität ab. Und da diese vom Gehirn gesammelt und verarbeitet werden, findet auch dort eine Modellierung statt. Unsere Denkmodelle, unser derzeitiger Gemütszustand und unsere Erfahrung haben einen großen Einfluss darauf, wie wir unsere Umgebung und Situationen wahrnehmen.
Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wir sehen die Welt, wie wir sind. Der Satz stammt nicht von Siwon, sondern von Hoimar von Ditfurth. Denkautomatismen machen es uns schwer, aus gewohnten Handlungsmustern auszubrechen. Sich dies in Projekten immer wieder vor Augen zu halten, ist essentiell.
Feel-How, Know-How, Know-Now im Projekt
Wir haben drei Ebenen des Denkens, die mit Hilfe eines Eisbergs dargestellt werden, die sich vom klassischen Know-How unterscheiden:
- Feel-How: Das ist der Teil des Eisbergs, der unter der Wasseroberfläche liegt. Wir wissen nicht genau, wie er aussieht, aber wir sind uns hoffentlich klar, dass er da ist.Alle unsere Erfahrungen, und eingeübten Verhaltensweisen, die im Unterbewusstsein herrschen. Wir tun viele Dinge, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Viele unserer Entscheidungen treffen wir aufgrund von Feel-How.
- Know-How: Das ist der Teil des Eisbergs, der über dem Wasser zu sehen ist. Im Verhältnis zum Feel-How ist das der deutlich kleinere Teil.
Alles, was wir bewusst durchdenken können und prinzipiell wissen, vielleicht erst nach einigem Nachdenken. Das meiste, an das wir uns erinnern können, ist nicht präzise das, was wir gesehen, gehört, gelesen oder gelernt haben, sondern eine interpretierte Fassung. - Know-Now: Ein kleiner schwarzer Punkt auf der obersten Spitze des Eisbergs.
Das, was wir gerade in diesem Moment, in dieser Sekunde vor Augen haben, denken, entscheiden, tun. Im nächsten Moment ist das Know-Now schon wieder ein anderes.
Wie an vielen Stellen im Buch »Die menschliche Seite des Projekterfolgs« schlägt Peter Siwon ein Selbstexperiment vor, um den Unterschied zwischen Know-How und Know-Now zu erfahren: Schreiben Sie einen etwa dreizeiligen Text frei auf über das, was Sie gerade denken. Decken Sie den Text ab und schreiben denselben Text nochmals. Haben Sie exakt die gleichen Wörter und Formulierungen verwendet? Nein? Das ist der Unterschied: Das Know-Now schreibt den Satz so, wie Sie jetzt gerade sind. Das Know-How weiß noch inhaltlich, was Sie gerade vorher niedergeschrieben haben, aber nicht mehr ganz exakt in welcher Formulierung.
Stress contra Überlegtheit im Projekt
Unter Stress neigen Menschen dazu, unbewusste Verhaltensweisen zu nutzen, egal ob diese effektiv sind oder nicht. Prozesse, die nur ganz bewusst durchlaufen werden können, geraten in Stresssituationen leicht ins Hintertreffen und werden vergessen.
Das Buch gibt einige Handreichungen, wie jeder selbst zunächst erkennen kann, dass er gerade im Begriff ist unter Stress unüberlegt zu handeln und wie sich die Pause schaffen lässt, um wieder das Know-How nutzen zu können. Dazu führt Siwon auf, welche vorbeugenden Maßnahmen wie etwa regelmäßiges Training Sicherheit bieten.
Die Ökonomie des Denkens führt dazu, dass das Gehirn auch ohne Stress gerne etablierte Denkweisen nutzt und Neues richtig antrainiert werden muss. Unter dem Begriff »Kompetenz-Illusion« beschreibt Siwon die Gefahr, durch übermäßige Vereinfachung die Aufgabe falsch einzuschätzen, oder bei Schwierigkeiten lieber Sündenböcke statt Lösungen zu suchen.
Eine Geschichte als Fallbeispiel
Durch das gesamte Buch »Die menschliche Seite des Projekterfolgs« zieht sich die Geschichte eines Softwareprojekts einer fiktiven Firma, an hand deren Peter Siwon die verschiedenen Problemstellungen und Lösungswege erläutert. Projektleiter kommen da ebenso vor wie junge Programmierer, erfahrene Entwickler, Bereichsleiter, Geschäftsführer und Kunden. Alle agieren, alle reagieren miteinander, und wenn’s schief läuft, ist selten einer allein Schuld.
Zusammengefasst: Überehrgeiz führt zu unrealisitischen Zielvorgaben. Das Projektteam trägt intern einige Kämpfe aus, als es eng wird, und versucht zu vertuschen. Der Projektleiter wird angegriffen und wehrt sich, und bekommt seinerseits Druck von der Geschäftsleitung, die wiederum beim Kunden Erwartungen geweckt hat. Schließlich schaffen es die Beteiligten auf allen Ebenen, offen zu kommunizieren und dadurch Lösungen zu finden, wobei auch deutlich wird, dass nachhaltige Projektkultur vom Management vorgelebt werden muss.
Beziehungskontinuum
Die Zusammenarbeit in Projekten bedingt ein Beziehungsgeflecht, das Siwon als Quadrat mit folgenden vier Ecken visualisiert:
gesunde Skepsis ‒ Vertrauen ‒ Naivität ‒ krankhaftes Misstrauen
Jedes Verhalten zu anderen Menschen kann also, wenn es zu weit geht, störend für das Projekt werden. Wie so oft: wer sich bewusst macht, wo er im Kontinuum steht, kann seine eigene Sichtweise anpassen.
Ihr könnt Projekte planen, soviel ihr wollt ‒ der Mensch macht’s
Peter Siwon hat einen überaus praktischen Ratgeber zum Thema Projektarbeit vorgelegt, der statt der scheinbar maßgeblichen Prozesse und Methoden den Mensch in den Vordergrund rückt. Die meisten Projekte scheitern denn auch nicht an unüberwindlichen technischen Schwierigkeiten, sondern an falschen Entscheidungen und Handlungen von Menschen, die eigentlich nur das beste wollen ‒ für sich, für die Abteilung, für die eigene Firma, für den Kunden. Dabei wird bewusst oder unbewusst getrickst, getäuscht, gestritten, gemauert, geprahlt.
So liefert »Die menschliche Seite des Projekterfolgs« einige Aha-Momente, Dinge, die mir eigentlich klar sein könnten und irgendwo vergraben vielleicht auch sind, und macht diese explizit. Um es mit Siwon zu sagen: Wissen wird aus dem Feel-How ins Know-How und im Idealfall ins Know-Now transportiert. Die kleinen Selbstexperimente schärfen den Blick für Denkfallen und Automatismen.
Somit wird klar: Ihr könnt Projekte planen, soviel ihr wollt ‒ der menschliche Faktor entscheidet, ob es gut geht oder nicht. Und dieser menschlichen Faktor lässt sich nicht aus einem Projekt »herausplanen«, sondern nur integrieren. Wenn die Teamabstimmung eben Zeit braucht, dann plane sie mit ein. Mach‘ klar, wozu Gateways und Meilensteine da sind: nicht fürs Management, sondern für die Projektmitglieder. Mach‘ klar, dass Eskalation von Problemen ein Mittel zum Schutz der Projektmitglieder und des Projekts ist anstatt selbst ein Problem zu sein. Und schließlich: Der Fisch stinkt immer vom Kopf her. Immer. Es ist Führungsaufgabe, eine Kultur zu schaffen, in der es Widerspruch zu unrealistischen Zeitplänen gibt, in der Probleme ‒ sowohl technische als auch zwischenmenschliche ‒ auf den Tisch gebracht werden, um sie zu lösen, und in der Checklisten als Mittel der Komplexitätsbewältigung und Automatisierung, nicht als Kontrollmedium angesehen werden.
Peter Siwon bietet zu seinem Buch eine Website mit weiterführenden Texten und Links an.
Angenehm geschrieben und illustriert
Ich kann gut mit Peter Siwons Schreibstil. Das Buch liest sich angenehm, verwendet angemessene, weder überkandidelte noch zu stark vereinfachte Sprache. Der Ansatz, eine durchgängige Geschichte eines Softwareprojekts mit allen beteiligten Personen einzuflechten, macht die Übungen und Erkenntnisse anschaulich und konkret. Wo notwendig, verwendet Siwon einfache, passende Illustrationen.
Peter Siwons »Die menschliche Seite des Projekterfolgs« ist meine klare Leseempfehlung für alle, die Projekte leiten, durchführen, beaufsichtigen, steuern und initiieren. Und das für Softwareprojekte wie auch andere Arten von Projekten, bei denen in endlicher Zeit durch ein Team bestimmte Ergebnisse erzielt werden sollen.
Disclaimer: Mir wurde von Peter Siwon ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
Foto: Natalie Lucier on Flickr, License CC-BY
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