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Neujahrsmüll­impressionen oder wie sich Deutschland abschafft

Die Nebelschwaden der Silvesternacht haben sich gerade erst verzogen. Wir sind am späten Vormittag auf unserer Laufrunde unterwegs, und wir haben nicht den Eindruck, im Neubaugebiet in Göggingen, einem der angesehensten Stadtteile Augsburgs unterwegs zu sein, sondern nahe der Mülldeponie. Dies sollte sich auch den Rest des Tages nicht wesentlich ändern, auch bei der nächsten Runde am Nachmittag sieht es noch ähnlich verwüstet aus.

Ist das ein Indikator? Ist das nicht ein Symbol für den Verfall der Gesellschaft? Nennt mich spießig, nennt mich engstirnig, doch ist es nicht das normalste der Welt, seinen Müll der Silvesternacht aufzuräumen? Ich erwarte von niemandem, direkt nachts noch den Besen zu packen. Aber ich erwarte durchaus, dass die Flaschen, die als Abschussrampen dienten, wieder mitgenommen werden, bevor sie umfallen und zerbrechen. Ich erwarte, dass die Kartons und Plastikverpackungen nicht einfach wild in die Grünanlagen geworfen werden. Ich erwarte, dass die Raketenbatterien nicht nachmittags um 16 Uhr noch herumstehen. Und ich erwarte in der Tat, dass es nicht im halben Stadtteil aussieht wie auf der Müllhalde.

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Wir sprechen hier von einem der gehobenen Stadtteile Augsburgs, mit vorwiegend Einfamilienhäusern, Doppelhaushälften und Reihenhäusern, mit einigen Wohnblöcken eingestreut, nicht von einem Problemviertel. Wer hierher zieht, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine vernünftige Ausbildung genossen und sollte die Auswirkung seines Tuns einschätzen können.

Wir haben das noch anders gelernt: wer nachts böllern kann, kann auch morgens aufräumen.

Was ist das Problem? Die Gedankenlosigkeit vielleicht. Vielleicht ist es ja sogar mehr als nur Gedankenlosigkeit.

»Ich muss das nicht aufräumen.«

»Dafür gibt’s die Stadtreinigung.«

»Wir gehen besser in die Nebenstrasse, dann liegt der Müll nicht bei uns herum.«

»Wieso wegräumen? Ist doch Silvester.«

»Wenn’s jemanden stört, kann er’s ja wegräumen.«

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»Sollen Sie halt die Knaller ohne Verpackung verkaufen.«

»Das trägt der Wind schon weg.«

»Was habe ich davon, hier meine Zeit mit Aufsammeln zu verplempern?«

Es ist die Überzeugung, für seine Hinterlassenschaften nicht selbst verantwortlich zu sein. Vollkasko. Es geht hier nicht um Massenveranstaltungen auf Feier-Meilen wie der Maxstraße, die ja nach jeder Veranstaltung wie nach dem Krieg aussieht. Hier geht’s um die Wohnviertel, wo – nennt mich naiv – quasi jeder vor seiner Türe feiert.

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»Die Stadt/ der Staat wird schon für mich sorgen.«

»Was im öffentlichen Raum ist, geht mich in nichts an.«

»Irgendjemand wird hinter mir her putzen.«

Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn allen egal ist, was mit Gemeinschaftseigentum geschieht? Was macht es mit unserer Gesellschaft, wenn wir einfach nur achtlos nebeneinander her leben?

Das, was unsere Gesellschaft heute lebt, leben wir unseren Kindern vor. Alle Nachlässigkeiten, Asozialitäten, die wir unseren Kindern vorleben, werden diese übernehmen. Wenn nur noch das relevant ist, was in den eigenen vier Wänden geschieht, dann leidet natürlich alles, was draussen ist.

Ich bin mit Sicherheit kein Heiliger, ich bin bestimmt auch nicht immer ein leuchtendes Vorbild. Doch ich möchte, dass meine Kinder lernen, auf Gemeinschaftseigentum – und nichts anderes sind Straßen, Plätze und Grünanlagen – acht zu geben. Das möchte ich meinen Kindern mitgeben, und dafür stehe ich.

Ich möchte in einer Welt leben, in der wir gemeinsam in einem Stadtteil leben. Ich muss nicht unbedingt jeden kennen, und ich muss nicht mit jedem befreundet sein, ich muss noch nicht mal jeden mögen. Doch ich respektiere meine Mitmenschen dergestalt, so dass ich die Integrität ihrer Umgebung wahre. Denn herumliegender Müll gehört zu den Anfängen des Verfalls gemäß der Broken Window Theory.

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Wir alle, jeder und jede einzelne, sind Teil einer Gemeinschaft, ob wir wollen oder nicht. Wir alle sind Bürger einer Stadt, eines Landes, eines Staates. Wir müssen miteinander leben, ob wir wollen oder nicht. Und wir können es uns dabei entweder angenehm machen oder nicht.  Was also bringt es dem einzelnen, seinen Silvestermüll wegzuräumen? Ganz einfach: Das gute Gefühl, nicht der einzige zu sein, der sich für seine Umgebung interessiert. Selbstachtung.

Deutschland schafft sich nicht wegen irgendwelcher großpolitischen Entscheidungen ab. Alles allein irgendwelchen Politikern anzulasten, auch wenn diese sich wahrhaftig Mühe geben, jegliches Vertrauen in den Staat zu erschüttern, ist eine Ausrede. Es beginnt im kleinen. Durch Desinteresse am Ganzen. Im Wohnviertel. Schaut Euch einfach mal vor Euren Türen, in Euren Wohnvierteln um, jetzt, am Jahresanfang. So geht es Deutschland.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Neujahrsmüll­impressionen oder wie sich Deutschland abschafft“

  1. Avatar von Adelinde

    Lieber Joachim, danke für Deine Worte. Du sprichst mir aus der Seele. Mir blieb am Neujahrstag die Sprache weg als ich auf die Straße trat. Da sind Deine Fotos aus Göggingen harmlos gegen das was ich hier in München den ganzen Tag zu sehen bekam. Egal wohin ich spazieren wollte, überall erblickte mein Auge den Müll der Silvesternacht. Die Straßen und Plätze waren übersät von Müll.

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