Wie kommt der Schlosser eigentlich dazu, heute vor einem Jahr so einen Artikel über Management-Sprech[1] rauszuhauen? Was erlaube Schlosser?
Neben ganz viel Zuspruch und Zustimmung auf den Beitrag über „Abholen, Mitnehmen, ins Boot holen“ – den es demnächst als Rede auf dem Embedded Software Engineering Kongress[2] gibt – gab es auch die eine oder andere Stimme, dass das, was ich dort schriebe, übergriffig und klimavergiftend wäre.
Das finde ich spannend. Dem wollen wir uns nähern.
Dazu streifen wir die Begriffe Hypothese, übergriffig, klimavergiftend, und sehen dann, wie es sich mit Zuschreibungen und Mustern verhält.
Was ist eine Hypothese?
Eine Hypothese[3] ist eine zu verifizierende oder zu falsifizierende Annahme, wie etwas sein könnte. Eine Hypothese ist damit immer erstmal ein Gedankenkonstrukt eines oder mehrerer Menschen. Eine Hypothese nimmt Beobachtungen der Realität, und versucht dann, die Wirkweisen in dieser Realität durch Annahmen zu erläutern. Der des Griechischen kundige Sohn sagt, Hypothese kommt von ὑπόθεσις hypóthesis und heißt Unterstellung.
Bisweilen stellen wir Hypothesen für eine festgestellte Korrelation auf, um Wirkweisen – Kausalitäten – anzunehmen. Das kann schief gehen, denn ganz vieles, was wir als Kausalitäten empfinden, sind einfach nur Korrelationen, das kausale Element jedoch sehen wir nicht. Diese Möglichkeit besteht für jede Hypothese und so auch für meine.
Eine Hypothese selbst ist damit nicht automatisch real. Die Hypothese selbst entspringt der Gedankenwelt des Autors. Meine Hypothese entspringt somit meiner Gedankenwelt.
Um eine Hypothese hinreichend darlegen zu können, ist eine Beschreibung der wahrgenommenen Realität notwendig. Diese Beschreibung der in der Realität auftretenden Muster kann speziell in soziologischen Feldern oftmals unschön und unangenehm sein. Speziell, wenn es wie hier um Kommunikationsmuster geht, ist die Wahrnehmung dieser bisweilen unangenehm und kontrovers. „Aber das kann man doch nicht sagen!“ „So will ich nicht sein!“
Sind dann noch Kommunikationsmuster bei bestimmten Berufsgruppen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger zu sehen, so kann in der Beschreibung der Kommunikationsmuster in Verbindung mit Hypothesen ein Angriff auf diese Berufsgruppen unterstellt werden.
Übergriffig
Übergriffig ist im nicht-körperlichen potentiell alles, was anderen Menschen ein Denkmuster unterstellt. Damit sind ungefähr einhundert Prozent aller Sozialwissenschaften potentiell übergriffig, weil diese darauf basieren, Muster zu analysieren und daraus Denkmodelle und Verhaltensmodelle zu erstellen, die unter bestimmten Voraussetzungen auf Gruppen von Menschen zu treffen.
Jegliches soziale Modell ist damit übergriffig, weil eine Zuschreibung vorgenommen wird. Jedes Modell, das sich auf die Denkweise und Handlungsweise von Menschen bezieht, ist immer mit dem Argument angreifbar, dass es ja Menschen gäbe, die sich so verhielten, aber anders dachten.
Dem ist zwangsläufig so. Jedes Modell ist eine Vereinfachung der Realität, oder wie der Statistiker George Edward Pelham Box sagte:
Alle Modelle ist falsch. Manche sind hilfreich.[4]
Es ist damit hoch wahrscheinlich, dass es immer mindestens einen Menschen gibt, der sich durch ein Modell, und damit eine Hypothese, falsch beschrieben fühlt. Das ist so, und das ist ja das tolle an Hypothesen: Man darf sie prüfen, und dann gegebenenfalls verwerfen, wenn man feststellt, dass das Modell die Realität eben nicht hinreichend beschreibt.
Für jeden Menschen ist es völlig in Ordnung, wenn sie sich nicht von dem Modell hinreichend beschrieben fühlt. Ein Modell kann einen Menschen gar nicht hinreichend beschreiben. Sonst wäre es ja kein Modell mehr, oder der Mensch wäre kein echter Mensch. Jeder Mensch ist viel mehr als das Modell, das wir zur Beschreibung dessen Verhalten anwenden.
Da ist freilich auch ganz viel Angst dabei. Wenn jemand ein Modell auf mich anwendet, dann kann er ja vielleicht Aspekte meiner Entscheidungen und Handlungen vorhersagen, und das fühlt sich dann vielleicht fremdbestimmt an, obwohl es in Wahrheit nur zutreffende Wahrscheinlichkeiten sind.
Klimavergiftend
Ein ganz spannender Begriff ist „vergiftet das Klima“. Gerade in der heutige Zeit.
Damit wird ausgedrückt, dass bestimmte Diskussionen einem harmonischen Zusammenleben von Menschen nicht zuträglich sind. In der Welt der Wirtschaft tritt dies häufig auf im Zusammenhang mit dem Begriff „Manager-Bashing“.
Da ist eine Dichotomie, die es zu entdecken gilt. Denn Manager-Bashing ist nicht hilfreich. Eine Gruppe von Menschen pauschal aburteilen hilft niemandem, und führt auch zu keiner Änderung. Das bedeutet jedoch nicht, dass Fehlleistungen, die in einer Gruppe von Menschen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung häufiger auftreten, nicht als solche angesprochen werden dürfen, besonders dann, wenn die Auswirkungen gesamtwirtschaftlich oder gesellschaftlich signifikant sind.
Klimavergiftend wird dann zu einer Schutzfloskel, um unliebsame Themen auf der Meta-Ebene zu diskreditieren, dabei jedoch die Inhaltsebene zu unterschlagen, also nicht länger überhaupt zu betrachten.
Klimavergiftend nimmt an, dass jede Kritik auf die Person einer Gruppe bezogen ist, und das kann auch das Merkmal von Kritik sein. In dem Fall ist die Kritik tatsächlich dem Zusammenleben in der Gesellschaft abträglich.
Klimavergiftend nehme ich oft wahr als Ablehnung des bloßen Ansprechens von Problemen und Mustern. Wirklich klimavergiftend sehe ich eher die radikale Ablehnung von Personen, persönliche Angriffe und Totschlagargumente, da diese keinen Dialog fördern. Fast jede Kritik, die auf Dialog abzielt, sehe ich positiv und verwende explizit nicht den Begriff.
Es ist zu unterscheiden, ob eine Kritik sich auf die Person bezieht („ad hominem“ [5]), oder auf eine Verhaltensweise. Kritisiere ich die Person oder das Verhalten?
Der Unterschied ist gewaltig: Ich kann das Verhalten einer Person kritisieren, die Person gleichzeitig aber insgesamt für fähig, sympathisch und integer halten. Kritisiere ich die Person an sich, geht dies nicht mehr so gut.
Ich kann einen Menschen mögen und als Mensch respektieren, und trotzdem dämlich finden, was er tut. Und umgekehrt übrigens auch. Auch Menschen, die ich nicht mag, können selbstverständlich anerkennenswerte Dinge tun.
Klimavergiftend wird bisweilen gebraucht, wenn jemand nicht unterscheiden kann oder nicht unterscheidet, ob eine Kritik auf die Person oder deren Verhalten zielt, und alles der Personenkritik zuschlägt.
Zuschreibung oder Muster?
Eine Zuschreibung ist nun stärker als eine Hypothese, denn eine Zuschreibung sagt „dieser Mensch ist so.“[6][7] Damit ist so ziemlich jede Zuschreibung natürlich quatsch, weil es vor allem in Sachen Verhalten und Kommunikation wohl kaum etwas gibt, das auf alle Menschen zutrifft.
Eine Zuschreibung ist also die Projektion der eigenen Meinung auf dritte, und damit sollten wir ganz vorsichtig sein, am besten ganz sein lassen.
Beschreibe ich etwas, das ich bei vielen Menschen wahrnehme, die bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, dann sehe ich ein Muster, also etwa ein Verhaltensmuster oder ein Kommunikationsmuster. Ein Muster ist eine Wahrnehmung. Das bedeutet nicht, dass das Muster unbedingt korrekt ist, denn üblicherweise ist die Größe der Stichprobe, aus der wir das Muster zu erkennen meinen, statistisch nicht signifikant. Man spricht auch von Repräsentativitätsheuristik.
Dagegen bin auch ich nicht gefeit. Deshalb kann ich lediglich mit Bestimmtheit sagen ich sehe folgendes Muster, jedoch nicht dieses Muster gilt stets.
Genauso wenig gilt freilich das Gegenteil. Nur weil ich ein Muster momentan nicht sehe, bedeutet das nicht, dass das Muster nicht dennoch existiert.
Ich bin nicht gefeit gegen Zuschreibungen, passiert mir auch. Ich hoffe eher selten beim Schreiben, aber ausschließen kann ich es nicht.
Kommunikation!
Ja, ist es. Für manches gibt es nicht die eine richtige Lösung, für manches gelten entgegengesetzte Dinge gleichzeitig, oder es hängt von vielen Faktoren ab. Alles, was wir über Kommunikation und Führung kommunizieren, ist stets eine Annäherung, eine Approximation, ein Modell.
Sobald ich über Kommunikation, über Führung, über Menschen schreibe, schlichtweg über alles, das nicht in die Technik-Erklärbar-Ecke fällt, wird es Menschen geben, denen das, was ich schreibe, nicht gefällt, oder die sich an den Beobachtungen und Hypothesen stören. Das muss ich aushalten, und an mir arbeiten, jedes Mal noch ein Stück klarer und unmissverständlicher zu kommunizieren.
Das ist mein Verständnis von Kommunikation: Da ich den anderen zunächst einmal nicht ändern kann, hilft es mir nichts, auf meinem Standpunkt zu beharren genau so, wie ich ihn schon beim ersten Mal aussprach. Will ich in Resonanz mit anderen kommen, dann muss ich konstant daran arbeiten, besser verstanden zu werden.
Hier kommen wir übrigens wieder zum Thema Führung: Da ist das nämlich genau so. Es liegt in meiner Verantwortung, Probleme zu benennen und dabei zu sehen, dass ich verstanden werde, damit ich eine Lösung ermögliche.
Wird es trotzdem immer Menschen geben, die mich nicht verstehen oder nicht verstehen wollen? Ja. Mit denen muss ich mich ja meist nicht beschäftigen.
Und was ist mit dem System?
Nun schreibe ich ja des öfteren von Systemtheorie,[8] und dass es meisst nichts hilft, an das Verhalten einzelner zu appellieren, sondern ich das System der Kommunikation betrachten und die Rahmenbedingungen ändern müsse. Das stimmt schon, dabei bleibe ich auch. Denn mehr Wissen und Bewusstsein über Kommunikationsmuster ist als sogenannte Irritation[9] bereits ein Änderung der Rahmenbedingungen.
Muster benennen und zur Diskussion stellen ist selbst eine Irritation des Systems, und ändert daher dessen Kommunikationsstruktur, einfach weil die Menschen ja durch die Irritation die Art der Kommunikation sehen. Sie wissen mehr als vorher, können das abwägen, zustimmen, ablehnen, aber auf alle Fälle: nicht mehr ungesehen machen. Unweigerlich fällt uns im Alltag auf, was wir vorher als Beschreibung gehört haben. Und das wiederum hat die Möglichkeit, die Kommunikation eben auch ohne Appelle zu ändern.
Deswegen ist der einzige Appell dieses Artikels auch dieser: Wenn Sie beim Lesen irgendeine Art Reaktion oder Gedanken hatten, die Ihnen eine ganz leichte Änderung Ihres Blickwinkels auf eine Situation in ihrem Leben erlauben, dann teilen Sie ihn gerne weiter.
-
Schlosser, Joachim. „Abholen, Mitnehmen, ins Boot holen – Management-Sprech seziert“. Dr. Joachim Schlosser (blog), 12. November 2019. https://www.schlosser.info/ins-boot-holen/. ↩︎
-
Embedded Software Engineering Kongress 2020. https://ese-kongress.de/ ↩︎
-
Thommen, Prof Dr Jean-Paul. „Definition: Hypothese“. Text. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/hypothese-34232. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. Zugegriffen 12. November 2020. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/hypothese-34232. ↩︎
-
„George E. P. Box – Wikiquote“. Zugegriffen 12. November 2020. https://en.wikiquote.org/wiki/George_E._P._Box. ↩︎
-
„Argumentum ad hominem“. In Wikipedia, 24. Juli 2020. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Argumentum_ad_hominem&oldid=202174872. ↩︎
-
Grau, Ina, und Hans-Werner Bierhoff, Hrsg. Sozialpsychologie der Partnerschaft. Berlin ; New York: Springer, 2003. https://amzn.to/36wVUro. ↩︎
-
Stangl, Werner. „Attribution“. Zugegriffen 12. November 2020. https://lexikon.stangl.eu/2020/attribution/. ↩︎
-
Luhmann, Niklas. Einführung in die Systemtheorie. Herausgegeben von Dirk Baecker. Siebte Auflage. Systemische Horizonte. Heidelberg: Carl-Auer-Syteme Verlag, 2017. https://amzn.to/2SQluRN. ↩︎
-
intrinsify. „Wie Führungskräfte Unwahrscheinliches wahrscheinlicher machen | von Mark Poppenborg“, 25. Juni 2020. https://intrinsify.de/paddelbruch-fuehrung-ist-irritation/. ↩︎
Schreiben Sie einen Kommentar