Warum können wir in manchen Momenten unser Gegenüber einfach verstehen, auch wenn sie gerade gar nichts sagt?
Warum führen gute Orchester das Vorspielen neuer Musiker hinter Stellwänden durch?
Welchen Effekt hat Stress und Zeitdruck auf unser Unterbewusstsein und dessen Fähigkeit zu entscheiden?
Das Buch »Blink!: Die Macht des Moments« von Malcolm Gladwell liefert Antworten.
Verstehen in einem Moment
Was steckt dahinter, wenn wir in einer Situation ein bestimmtes Gefühl haben? Was tut unser Gehirn da?
Welches Denken steckt hinter dem Bewusstsein? Wie denkt das Unterbewusstsein?
Gladwell zeigt anhand von Beispielen und Studien, dass oft unsere bewussten Analysen und Entscheidungen weniger zutreffen sind, als wenn wir unserem spontanen Gefühl folgen.
Dieses spontane Gefühl ist die Intuition, das Ergebnis dessen, wenn unser Unterbewusstsein nachdenkt. Viel schneller als wir das bewusst könnten.
Decision Paralysis – Entscheidungslähmung
Je mehr Optionen wir bewusst bei unseren Entscheidungen bedenken wollen oder müssen,desto schwerer fällt uns die Entscheidung. Dies führt auch dazu, dass wir dann oft gar keine Entscheidung treffen oder uns eben gegen alle Optionen, für den Status Quo entscheiden.
Beliebtes Beispiel liefert die Studie, in der in einem Lebensmittelgeschäft Marmelade zum Probieren angeboten wurde. Gemessen wurde der Anteil der Passanten, die daraufhin tatsächlich ein Glas Marmelade kaufte. Konnten die Passanten zwischen 6 Sorten wählen, war der Anteil derer, die kauften, signifikant höher als wenn sie zwischen 20 Sorten wählen konnten. Mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Daten sind also nicht immer von Vorteil.
In der heutigen Zeit gilt ja das Mantra, dass ein mehr an Daten immer zu besseren Entscheidungen führt. Das stimmt aber nur dann, wenn wir die Menge an Daten nicht händisch überblicken müssen, sondern an Algorithmen auslagern können.
Ansonsten sind wir gut bedient, in Themen, in denen wir uns wirklich auskennen, unser Intuition zu vertrauen und nicht zu viele Wahlmöglichkeiten entstehen zu lassen.
Warum ist das Unterbewusstsein so viel schneller?
Das Unterbewusstsein hat Zugriff auf viel mehr Details und Aspekte, und kann diese verknüpfen. Das Unterbewusstsein kann damit auf Basis von Erfahrung und Eindrücken entscheiden, von denen wir nicht mehr wissen, dass wir sie haben.
Warum ist das Unterbewusstsein nicht zugänglich?
Das ist ein Schutzmechanismus. Die Füller der Eindrücke, die unser Unterbewusstsein aufnimmt, können wir bewusst gar nicht verarbeiten. Unser Bewusstsein hat nur eine gewisse Verarbeitungskapazität. Wir merken das, wenn wir zwei Aufgaben gleichzeitig ausführen sollen, für die wir beide ein Nachdenken benötigen, wie etwa eine E-Mail schreiben und aktiv telefonieren. Das geht nicht. Nur, wenn eine der Aufgaben vollständig oder weitgehend vom Unterbewusstsein übernommen werden bzw. gesteuert werden kann, gelingt dies. wir können beispielsweise Musik hören und gleichzeitig Auto fahren. Wir können sogar bei bekannten Melodien mitsingen, ohne ein Verkehrsrisiko zu werden.
Das Unterbewusstsein hat ein Vielfaches an Verarbeitungskapazität, deshalb geht das unbewusste Entscheiden oft auch so schnell ‒ in einem Moment: Blink!
Thin Slicing
Wenn wir schnell Entscheidungen über einen Sachverhalt treffen, ohne vollständige bewusste Information zu haben, und scheinbar ohne groß bewusst darüber nachgedacht zu haben, nennt Gladwell das Thin Slicing.
Thin Slicing beschreibt den Vorgang, mit dem der Kunstkenner nach kurzen Hinsehen und in die Hand nehmen eines Kunstgegenstands mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ob es sich um eine Fälschung handelt.
Thin Slicing ist, wenn ein Forscher nach wenigen Sekunden Beobachtung eines angehenden Ehepaars im Gespräch eine Einschätzung abgeben kann, wie stabil deren Ehe sein wird.
Thin Slicing ist der erfahrene erste Eindruck, den wir gewinnen. Wichtig hierbei ist, dass es der erfahrene erste Eindruck ist, wenn wir viel Erfahrung im jeweiligen Gebiet aufweisen.
Der Sportanalyst, der quasi austrainiert ist, sieht Dinge, die der Sportler selbst nicht wahrnimmt. Auf der anderen Seite kann der austrainierte Sportler Spielsituationen lesen, er weiß, was passieren wird, ohne dass er genau sagen könnte, wie er darauf kommt.
Vorurteile
Natürlich kann der erste Eindruck auch einfach unseren Vorurteilen Ausdruck verleihen. In verschiedenen Experimenten wurde ein Zusammenhang zwischen schneller Entscheidung und Vorurteilen, etwa gegenüber Schwarzen Mitmenschen nachgewiesen.
Dies trifft auch auf Menschen zu, die sich selbst als vollkommen tolerant beschreiben, und die auch von anderen als vorurteilsfrei beschrieben werden.
Die kulturelle Prägung, die das Vorurteil beinhaltet, kommt unter Zeitdruck bzw. Stress zum Vorschein, wie Malcolm Gladwell in Blink! eindrucksvoll beschreibt.
Gladwell führt als zweites großes Beispiel neben Vorurteilen gegenüber Schwarzen den Bereich der Frau im klassischen Orchester an. Lange Zeit war Orchestermusik eine reine Männerdomäne, in der Frauen die Physis für exzellentes Musizieren abgesprochen wurde.
Steht eine Neubesetzung in einem Orchester an, lud der Dirigent zum Vorspiel ein und suchte danach den passenden Musiker aus. Erst Blind Auditions, also ein Vorspiel vor einem Komitee, bei dem der Musiker hinter einem Sichtschutz die Bühne betrat und sein Instrument spielte, änderten die Lage.
Erst seit ganz wenigen Jahrzehnten hat sich die Struktur von klassischen Orchestern dahingehend verändert, dass Frauen einen großen Anteil der Musiker stellen, weil eben durch die Sichtschutzwand das Vorurteil nicht mehr wirken konnte, sondern nur noch die Musik.
Priming ‒ Manipulation oder nicht?
Unter bestimmten Voraussetzungen lassen sich auch Momententscheidungen beeinflussen, in dem Probanden vorher stimulierende Aussagen untergejubelt wurden.
Es ändert sich nichts Grundlegendes an den eigenen Einstellungen, doch können verschiedene Anteile der eigenen Urteilsfähigkeit und der eigenen Persönlichkeit durch sogenanntes Priming hervorgehoben werden.
Priming ist damit ein Mittel, Menschen dazu zu bringen, eine bestimmte Sichtweise zumindest mit zu berücksichtigen, meist unbewusst. Wenn Sie beispielsweise in einer unbehaglichen Gegend unterwegs sind, werden Sie Ihren Vorurteilen gegenüber ausländischen Mitbürgern eher Ausdruck verleihen als sonst.
Stress und temporärer Autismus
Gesichter zu lesen ist in vielen Berufen, allgemein in der Begegnung mit Menschen eine wichtige Fähigkeit. Gladwell beschreibt einige Fälle aus dem Polizeidienst, von denen manche zur Katastrophe führten, weil Polizisten unter Stress die Intention von vermeintlich Verdächtigen falsch deuteten.
Ein direkter Zusammenhang zwischen Stresslevel, Pulsfrequenz und der Fähigkeit, bei anderen Menschen Gesichtsausdrücke zu deuten, konnte nachgewiesen werden. Nach Verfolgungsjagden, egal ob zu Fuss oder mit dem Auto, auch nach kurzen, kam es in den USA öfter zu tödlichen Zugriffen als sonst. Die Bedingungen konnten auch im Labor nachgestellt werden.
Unter Stress, im Zustand der Erregung, verliert der Polizeibeamte meist die Fähigkeit auf sein Gegenüber richtig einzugehen. Malcolm Gladwell nennt dies temporären Autismus. In einem Beispiel wurde einem farbigen Vorortbewohner ein nächtlicher Spaziergang auf der eigenen Veranda zum tödlichen Verhängnis. Mehrere zivile Polizisten fehlinterpretierten seine Intention, sprachen ihn als Gruppe an, worauf dieser von der zivil gekleideten Gruppe Reißaus nahm. Als er sein Portemonnaie zücken möchte, sieht einer der Polizisten stattdessen eine Waffe und beginnt zu schießen.
Unter Stress kommen verborgene Vorurteile besonders stark zum Vorschein.
Zeit gewinnen
Im Kontext der Polizeiarbeit hilft es nichts, Polizisten besser auszuwählen, oder ihre grundsätzlichen Überzeugungen zu schulen. Ein Ansatzpunkt, der direkt Abhilfe schafft, besteht darin, ihnen mehr Zeit zu verschaffen, den Stresslevel zu senken. Sie alleine auf Streife schicken, weil der Beamte dann von sich aus Tempo aus der Situation heraus nimmt. Bestimmte Protokolle einhalten, die Missverständnisse verhindern.
Gladwell gibt uns ebenfalls den Rat, genau zu prüfen, wo wir ganz gerne mal übereilt handeln, und genau dort dafür zu sorgen, dass wir Tempo aus der Situation rausnehmen, um entweder nachdenken zu können, oder das unterbewusste Denken, das implizite Lesen einer Situation wieder zuzulassen.
Wir sollten bewusst wählen, wann und wie wir spontane Entscheidungen nutzen
Wann immer wir aufgefordert sind, rasch zu entscheiden, also unbewusst zu entscheiden, können wir durch die passende Umgebung Zeit gewinnen. Manchmal ist es nötig, der spontanen Entscheidung nachzugeben, manchmal nachdem die Rahmenbedingungen verändert wurden. Passende Rahmenbedingungen können zu fundierten Entscheidungen führen. Die Entscheidung nach Bauchgefühl ist vor allem dann überlegen, wenn es um komplexe Fragestellungen geht, die nicht vollständig rational erfassbar sind. Bei einfachen Entscheidungen hingegen ist das Bewusstsein oft im Vorteil. Diese Erkenntnis widerspricht zwar laut Gladwell der allgemeinen Annahme, wird jedoch durch die Studien und Beispiele in Blink! gestützt.
Malcolm-Gladwell-Stil
Für Malcolm Gladwell typisch: Anekdoten, die sich um ein Thema ranken, sinnvoll gruppiert. Viele Studien, oft aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.
Kein Wissenschaftsbuch, kein Ratgeber, sondern ein Denkanstoß.
Sehr gut zu lesen. Wie immer ein klares Englisch.
Ich habe das englische Original von Blink! gelesen und kann das Buch uneingeschränkt empfehlen.
Es gibt eine deutsche Ausgabe mit dem Titel Blink! Die Macht des Moments. Ob diese Übersetzung etwas taugt, kann ich nicht sagen.
Zum Buch hat Malcolm Gladwell einen Blink!-Bereich auf seiner Website bereit gestellt, auf der noch einiges an Hintergrundmaterial zusammen getragen hat. Sie ist als Ergänzung zum Buch gedacht und empfiehlt sich nur während oder nach d Lektüre.
Wer »Tipping Point« von Malcolm Gladwell (meine Buchbesprechung) mochte, wird auch Blink! mögen.
Haben Sie’s gelesen?
Lassen Sie die anderen Leser ebenso wie mich teilhaben an Ihren Eindrücken und kommentieren Sie!
Photo: Axel Naud on Flickr, License Creative Commons Attribution
Schreiben Sie einen Kommentar