Lesen: Michael Ende – Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte

Hat irgendjemand » Momo« von Michael Ende (1929–1995) noch nicht gelesen oder gesehen? Nun, da das Buch fast vierzig und auch die Verfilmung schon fünfundzwanzig Jahre zurückliegt, kann das durchaus sein. Vielleicht hatten Sie auch bislang nur keine Zeit dazu? »Momo« ist das Standardwerk für alle, die rastlos sind und gerne alles immer effizienter machen wollen, und da nehme ich mich nicht aus.

»Momo« ist eine Fabel, in der ein kleines obdachloses Waisenmädchen mit ebendiesem Namen einer Verschwörung der Zeit-Diebe auf die Spur kommt. Diese versprechen den Menschen, dass sie Zeit sparen könnten für später, indem sie jetzt immer rastloser, immer schneller und immer effizienter arbeiteten. Die Zeit-Diebe selbst ernähren und vermehren sich von dieser »gesparten« Zeit.

In wunderbaren Bildern beschreibt Michael Ende die Welt von Momo, in der sie viel Zeit hat, ihren Freunden, die in der Nähe der Ruine wohnen, in der sie lebt, zuzuhören. Bis sie merkt, dass die Leute immer weniger Zeit haben, zu ihr zu kommen. In einer beeindruckenden Szene rechnet einer der Zeit-Diebe einem Friseur vor, wie viel Zeit er bislang in seinem Leben schon hätte sparen können. Er überzeugt den Friseur, sein Leben zu ändern und Zeit zu sparen, durch schnelleres, effizienteres Arbeiten, und indem er weniger Zeit für die Sorge um andere aufwendet. Die Menschen in der Stadt verändern sich und haben immer weniger Zeit, da sie diese ja vermeintlich sparen. Doch die Zeit wird eben nicht gespart, sondern dient immer mehr Zeit-Dieben als Nahrung – die »grauen Herren« rauchen die Zeit getrocknet und gerollt in Form von grauen Zigarren. Momo kommt schließlich zum Hüter der Zeit, der jedem Menschen seine »Stundenblumen« zuteilt, und kann mit dessen Hilfe zum einen verstehen, zum anderen den Menschen die gestohlene Zeit wieder zurückbringen.

Wir können Zeit nicht sparen. Zeit ist flüchtig. Wir können uns nur entscheiden Zeit für etwas aufzuwenden oder nicht. Jeder Augenblick ist nur ein einziges Mal da. Michael Ende setzt ein Plädoyer für das »sich Zeit nehmen« und für die Liebe zum Detail, die sich nicht nur in hoher Qualität äußert, sondern auch in der eigenen Zufriedenheit mit der Tätigkeit.

Sehr eindringlich liest sich auch der Handlungsstrang, in dem ein Freund von Momo, ein Geschichtenerzähler, sehr erfolgreich und sehr gehetzt wird und dadurch seine Fähigkeit verliert, immer neue Geschichten zu erfinden. Kreativität bedarf eben auch Zeit. Der andere Freund, ein Straßenkehrer wird durch die Zeit-Diebe eingeschüchtert und meint, ab sofort viel Zeit sparen zu müssen, um Momo zu retten, und hetzt sich bei seiner Arbeit so ab, dass er die Freude verliert, die er bislang daran hatte. Wer meint, aus Zeitdruck seine Arbeit nicht mehr mit Sorgfalt tun zu können, ist also ebenfalls weniger wirksam.

Das Zuhören bekommt eine ganz besondere Bedeutung. Das vollkommen offene Zuhören, welches ohne jeglichen Rat, ohne jegliche Wertung, ja ohne jegliche eigene Absicht geschenkt wird, verändert den Beschenkten. Es ermöglicht ihm, zu neuen Ansichten zu gelangen, die nicht durch den Zuhörer beeinflusst sind.

Das Buch selbst – bei mir in der gebundenen Ausgabe von 2005 – finde ich sehr angenehm gesetzt. Der Seitenspiegel weist vernünftige, nicht zu eng bemessene Ränder auf. Die Schrift ist auch in den Überschriften unaufdringlich und lässt der Geschichte ihren Raum. Sehr schön finde ich, dass die Umschlagschrift zumindest meinem Empfinden nach der der Originalausgabe entspricht. Sehr gut gefällt mir die Auflockerung alle paar Kapitel durch Zeichnungen von Michael Ende selbst, die einen kurzen Eindruck oder eine Stimmung einfangen. Auch das Umschlagbild stammt vom Autor selbst.

So schön und werkgetreu die Verfilmung auch sein mag – nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie dieses Buch. Verlieben sie sich in die poetischen Beschreibungen Michael Endes. Es wird ihren Blick weiten.

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Kommentare

2 Antworten zu „Lesen: Michael Ende – Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“

  1. Hallo Joachim,
    ich freue mich sehr, dass Dich mein Buchtip so tief im Herzen berührt hat, wie ich es mir erhofft hatte.
    Auch ich bin der Meinung wie Du sie beschrieben hast und Zeit ist eine sehr sehr grosse Kostbarkeit. Als ich die Erstausgabe vor vielen Jahren bekommen habe, hatte ich noch keinen blassen Schimmer, wohin die Zeit uns führt und muss heute rückblickend sagen: „Brrrrrrr, die grauen Herren haben heftigst um sich gegriffen“
    Ich hoffe sehr, das immer mehr Menschen sich auf die Suche nach ihrer eigenen Zeitblume machen.

    Liebe Grüsse
    Hildegard

    1. Das praktische ist ja, dass diese Blume in uns selbst ist, nur eben schwer zu entdecken.

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