„Wir müssen die Mitarbeiter ins Boot holen.“
„Wir müssen das Management erstmal entsprechend abholen.“
„Wir müssen die Mitarbeiter bei diesem Change mitnehmen.“
Wer ständig Führungskräfte, Kollegen, Mitarbeiter „ins Boot holen“ muss, hat sie vorher oft selbst ins kalte Wasser geworfen.
Dr. Joachim Schlosser
Inhaltsverzeichnis
- Abholen und mitnehmen
- Normalfall Ins-Boot-holen
- Hypothese 1: Bade- und Angelausflug
- Hypothese 2: Schiffbrüchige
- Hypothese 3: Beim Anfahren vom Schnellboot gefallen
- Hypothese 4: Entkräftete beim Langstreckenschwimmen
- Führungsverständnis – Führungsversäumnis
- Was denn dann? Wirf die Leute nicht ins Wasser. Nicht absichtlich, nicht unabsichtlich.
- Das kommunizierte Gefälle der Passivität
- Problemlösung nahe am Problem
- Sprache formt Realität
- Literatur
Abholen und mitnehmen
Was soll das? „Abholen“ und „mitnehmen“.
Ich nehme meine Kinder irgendwohin mit, ich nehme meinen Koffer mit. Ich hole meine Familie vom Zug ab. Ich nehme Zuhörer in einem Vortrag auf eine Gedankenreise mit – hoffentlich.
Ist dieses „mitnehmen“ dann vielleicht auch der Grund, warum manche Menschen in Unternehmen so mitgenommen aussehen?
Aber Kollegen, Mitarbeiter, Führungskräfte? Welches Menschenbild spricht daraus? Klar, abholen ist nett, und ich hole Menschen ab und nehme sie mit, wenn sie selbst nicht mobil sind. Unterstellen Sie Mitarbeitern und dem Management, in dem Thema nicht mobil zu sein? Wirklich?
Statt ständig Leute „abholen“ und „mitnehmen“ zu müssen, wäre es nicht viel nachhaltiger, die Menschen mobil zu machen, ihnen also selbst Beweglichkeit zu verschaffen? Könnten die Menschen vielleicht sogar selbst beweglich sein, meinen aber es nicht sein zu dürfen? Das wäre der Fall der erlernten Hilflosigkeit [1,2].
Normalfall Ins-Boot-holen
Und dann das unsägliche „ins Boot holen.“ Was soll das überhaupt bedeuten? Wenn ich jemand ins Boot holen muss, wo ist der vorher? Im Wasser wahrscheinlich. Wie kam er dorthin? Was macht er dort im Wasser? Welches Boot? Wenn ich jemand ins Boot holen soll, dann bin ich wohl in diesem Boot. Was macht das Boot hier? Wie kam ich in dieses Boot? Wie warm ist das Wasser? Ist das Wasser unruhig? Wie groß ist das Boot? Gibt es zu dem Boot noch ein Schiff? Oder gab es ein Schiff?
Denken wir den Satz mal durch und bilden Hypothesen, und sehen dann in welchem Zusammenhang dieser Satz in Unternehmen üblicherweise verwendet wird.
Nun ist es ja in Unternehmen nicht so, dass einmal eine Führungskraft diese Metapher vom „ins Boot holen“ verwendet, sondern bei jeder anstehenden Veränderung, bei jedem Projekt oder bei jeder größeren Aufgabe.
Gehört es also zum normalen Vorgehen, Menschen „ins Boot holen“ zu müssen, dann liegt der Schluss nahe, dass öfters eine der in den Hypothesen beschriebenen Fälle eintritt.
Hypothese 1: Bade- und Angelausflug
Wir sind gemeinsam auf einem Bade- und Angelausflug. Ich sitze im Boot und angle oder mach sonst irgendetwas, und nun wollen wir eine Bucht weiter fahren. Die anderen, die bislang zum Baden im Wasser sind, sollten natürlich nicht alleine zurück bleiben und müssen deshalb ins Boot.
Wieso muss ich die ins Boot holen? Können die nicht selbst ins Boot kommen, wenn ich ankündige, das wir jetzt weiterfahren?
Wenn in einer Organisation diese Hypothese vorherrscht, dann vertritt diese also die Ansicht, dass die Mitarbeiter sich auf einem Badeausflug befinden. Wirklich? Sind die alle zum Spaß im Wasser? Was sollten sie eigentlich tun? Angeln? Wenn sie angeln sollten, warum muss ich sie dann ins Boot holen? Hat ihnen vorher keiner gesagt, dass es sich um einen Angel- und keinen Badeausflug handelt?
Menschen regelmäßig ins Boot holen müssen zeugt von einem seltsamen Führungsverständnis.
Oder war es eine Bade-Party und nun ist sie vorbei? Dann hole ich die Leute auch nicht ins Boot, sondern gebe bekannt, dass die Party vorbei ist. Bleibt die Frage, ob die Leute das vorher als Party aufgefasst haben, oder was ihre Meinung ist, warum sie sich im Wasser befinden.
Hypothese 2: Schiffbrüchige
Es handelt sich bei den im Wasser befindlichen Personen um Schiffbrüchige, und ich bin in einem Rettungsboot auf hoher See. Somit benötigen die Schiffbrüchigen meine Hilfe, um zu überleben. Eventuell sind sie bereits entkräftet, so dass ich sie „ins Boot holen“ muss, da sie dazu nicht mehr selbst in der Lage sind.
Wo ist das Schiff? War ich auf demselben Schiff? Wie entstand der Schaden, der zum Untergang führte? Was war meine Rolle auf dem Schiff? Was führte zur Havarie?
Kernfrage ist für mich auch: Oft sprechen Führungskräfte schon weit vorher darüber, wie sie später „die Mitarbeiter ins Boot holen“ können. Heisst das, dass die Führungskräfte bereits davon ausgehen, dass es eine Havarie und ein Schiffsunglück geben wird? Wieso verhindern sie das Schiffsunglück nicht, und wieso gibt es dann keine ordentliche Evakuierung, bei der niemand im Wasser landet? Oder gibt es nicht genügend Rettungsboote? Wie aber sollen dann alle Mitarbeiter „ins Boot“ geholt werden?
Das könnte einmal in einem Firmenleben sogar auftreten, aber in der Häufigkeit, in der es heisst „wir müssen die Mitarbeiter ins Boot holen“, sind es zu viele Havarien. Ist das Erzeugen von Havarien damit Teil der Führungsidee? Werden notwendige Veränderungen gesehen, ignoriert, abgewiegelt und wenn’s dann zu spät ist, drastische Maßnahmen ergriffen? Wäre ja schade.
Menschen regelmäßig ins Boot holen müssen zeugt von einem seltsamen Führungsverständnis.
Hypothese 3: Beim Anfahren vom Schnellboot gefallen
Die im Wasser befindlichen Personen fielen vom Boot oder der Yacht, als diese ruckartig anfuhr. Nun ist das Boot gestoppt und die Leute werden wieder an Bord geholt. Für die Party und die Reise ist das eine unschöne Verzögerung, und außerdem werden sich die Leute nicht freuen, naß geworden zu sein.
Wer ist der Skipper auf diesem Boot? Wieso fährt der so schnell an, ohne allen Bescheid zu sagen?
Wenn jemand zum allerersten Mal ein Schnellboot steuert, kann es passieren, dass er zu viel Gas gibt und damit zu schnell los fährt. Aber immer wieder? Das zeugt entweder nicht von einem guten Ausbildungsprogramm für Steuermänner, oder es zeugt von mangelnder Achtsamkeit. Ist sich der Steuermann bewusst, dass da noch Menschen auf dem Boot sind, und dass diese stehen? Wieso sagt er diesen nicht Bescheid, dass er jetzt losfährt und sie sich festhalten sollen?
Oder ist es Teil seiner Steuerungs-Idee, dass da ruhig mal ein paar Mitarbeiter naß werden können? Was wiederum die Frage aufwirft: Was ist das für eine Fahrt? Einfach eine Fahrt ins Blaue, mit Fahrgästen, oder eine Mission, bei der es keine Fahrgäste gibt, sondern Teammitglieder, die auf der Fahrt wichtige Aufgaben haben? Wieso nehme ich dann in Kauf, dass diese Teammitglieder schon zu Beginn ins Wasser fallen? Das mag ja als Gag im Training ganz witzig sein, aber auf einer Mission? Ernsthaft?
Menschen regelmäßig ins Boot holen müssen zeugt von einem seltsamen Führungsverständnis.
Hypothese 4: Entkräftete beim Langstreckenschwimmen
Im Wasser sind Sportschwimmer, die eine lange Strecke schwimmen möchten. Für einige ist die Strecke zu lang, oder das Wetter schlägt um. Aus Sicherheitsgründen holen wir sie ins Boot. Das bedeutet aber auch, dass wir gegebenenfalls nicht alle ins Boot holen, sondern nur die Entkräfteten.
Eine wesentliche Frage in diesem Szenario für mich ist auch: Wieso muss man ankündigen, dass man „die Leute ins Boot holen müsse“? Und wieso „die Leute“? Wenn einzelne Sportler in Not geraten, muss ich dann nicht nur genau diese aus dem Wasser bergen? Wieso ist das wichtige, die Leute „ins Boot“ zu holen, und nicht hauptsächlich „aus dem Wasser“?
Wer entscheidet, wer zu entkräftet zum Weiterschwimmen ist? Der Sportler? Der Trainer? Der Wettkampfleiter? Welcher Art ist der Wettkampf? Was ist die Prämie des Gewinners? Was ist der Anreiz fürs Team? Beschäftigt der Sportler den Trainer, oder beschäftigt der Trainer den Sportler, oder arbeiten beide für einen Verband? Wie wurde trainiert?
Bei Wetterproblemen: Wer hat die Wettervorhersage eingeholt? Wer veranstaltet den Wettkampf? Hat der Trainer sichergestellt, dass die Sportler auf jegliche Wettersituationen trainiert sind?
Wenn mir das öfters passiert, dass ich beim Wettkampf einen Schwimmer „ins Boot holen“ muss, dann mache ich irgendetwas falsch. Ist es der richtige Wettkampf? Oder ist der Wettkampf so aufgesetzt wie die Leichtathletik-WM in Katar, also in völlig ungeeigneten Bedingungen?
Ob die Führungskraft die Rolle des Trainers oder des Wettkampfleiters einnimmt – sie sollte sich ernsthaft Gedanken machen, ob die Parameter des Wettkampfes passen, wenn ich „alle ins Boot holen“ muss.
Menschen regelmäßig ins Boot holen müssen zeugt von einem seltsamen Führungsverständnis.
Führungsverständnis – Führungsversäumnis
In den vorangegangenen Abschnitten schreibe ich von einem seltsamen Führungsverständnis, um den Begriff Führungsversäumnis zu vermeiden. Vielleicht ist es jedoch genau das. Muss ich regelmäßig „Leute ins Boot holen“, habe ich gemäß der obigen Hypothesen wohl vorher öfter mal etwas nicht gemacht und so die Situation überhaupt erst zugelassen und die Leute quasi selbst ins kalte Wasser geworfen.
Noch so eine Redensart: „jemanden ins kalte Wasser werfen.“ Kann ich machen, wenn ich zuversichtlich bin, dass dieser entsprechende Fähigkeiten zu schwimmen hat. Sonst ist es grob fahrlässig. Jemand, der prinzipiell schwimmen kann, und dennoch nicht die vorgesehene Strecke oder Aufgabe im Wasser schafft, kann dennoch selbst wieder an Land oder ins Boot steigen. Wenn ich jemand ins Wasser warf, der dafür weder Ausbildung noch Trainingsstand hat, dann muss ich diesen wieder „ins Boot holen“ und offenbare damit mangelhafte Einschätzung und mangelhaftes Führungsverhalten.
Matthias Wolf fragte mich daraufhin auf Twitter:
Und was ist mit denen, die von anderen ins Wasser geworfen, oder stehen gelassen wurden? Darf man die „abholen“, „mitnehmen“ oder „ins Boot holen“?
Ja, natürlich. Es gilt dasselbe wie oben: Ich sollte mir und der Organisation zumindest bewusst machen, dass da vorher was falsch gemacht wurde, von wem auch immer. Abholen, mitnehmen, ins Boot holen müssen sollte nicht die Norm sein.
Was denn dann? Wirf die Leute nicht ins Wasser. Nicht absichtlich, nicht unabsichtlich.
Das ist ja ganz schön und gut, Schlosser, wir dürfen also nicht mehr „ins Boot holen sagen“. Was dürfen wir den dann sagen?
Die Worte sind ja nicht das Problem, sondern der Geist, der dahintersteht. Worte formen Realität. Verwende ich bestimmte Phrasen immer wieder, so mache ich mir die dahinterstehenden Konzepte unbewusst zu eigen. „Ins Boot holen“ geht von hilfsbedürftigen, passiven Menschen aus. Ich will doch in meiner Organisation vieles haben, aber doch bitte keine passiven, hilfsbedürftigen Menschen!
Die meisten Menschen in Unternehmen, egal ob Führungskraft oder „normaler“ Mitarbeiter, meinen es ja gut, und sind sich der formenden Kraft dieser Phrasen jedoch oft nicht bewusst. Aber auch das formt die Wahrnehmung der Mitarbeiter für das eigene Unternehmen, und da ist die Lage nicht unbedingt rosig [9].
Nun haben wir verstanden, dass die Verwendung von „ins Boot holen“ auf eine der obigen Hypothesen hindeutet.
Was also tun, und wie darüber sprechen?
Wirf die Leute nicht ins Wasser. Nicht absichtlich, nicht unabsichtlich.
Oft wird die Phrase verwendet, wenn in einem Unternehmen umgreifende organisatorische Veränderungen durchgeführt werden, und dazu die Mitwirkung aller benötigt wird, zumindest aber das Ertragen dieser Änderungen.
Das kommunizierte Gefälle der Passivität
Spreche ich in dieser Situation passiv von den Menschen, dann unterstelle ich ein Wissens- und Verständnisgefälle zwischen Führungsebene und Ausführenden. Im Zeitalter der Könnens- und Wissensarbeit ist dies jedoch anmaßend! Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Mehrheit den Veränderungsbedarf lange vor der Führungsebene erkannt hat. Das ändert den Kommunikationsbedarf!
Ich erläutere also durchaus nochmal die Gründe für die Änderung, so wie sie ja wahrscheinlich aus der Mannschaft an die Führung herangetragen wurden. Das ganze möglichst früh, gerne auch, bevor die Änderung schon definiert ist.
Auf diese Weise kann ich auch gleich die Hirn-Power aller nutzen, weil ich dann nämlich vermutlich Einschätzungen zu Veränderungsstrategien und den Lösungsraum, mindestens aber noch tiefere Einblicke einzelner in den Problemraum erhalten kann, die die spätere Veränderung formen [8].
Problemlösung nahe am Problem
Eine Veränderung muss nicht populär sein, doch viele Menschen haben ein feines Gespür, ob Änderungen in einem Unternehmen auf das Problem wirklich passen. Dann muss ich niemand „ins Boot holen“, sondern ich gebe das Missionsziel aus und die grobe Marschroute vor. Ich will hier nicht länger über Veränderungsprojekte sprechen, dazu gibt es ein ganzes Buch: Switch von den Heath Brothers [6] – siehe auch meine Rezension zu Switch.
Gehen Sie davon aus, dass Ihre Mannschaft näher am Problem ist als Sie [5]. Ist das Problem hinlänglich bekannt, wird eine passende Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit schlicht mit einem endlich quittiert. Ansonsten erläutern Sie das Problem noch besser.
Ganz oft vergessen wir in Unternehmen das Prinzip der Subsidiarität, also dass nur dann eine übergeordnete Stelle Maßnahmen zu ergreifen hat, wenn die darunter liegende ein Problem nicht selbst lösen kann [4]. In Unternehmen versuchen wir dagegen oft, von oben alles zu steuern – nicht nur, dass das demotivierend wirkt, es ist auch vermessen.
Erläutern ist etwas ganz anderes als ins Boot holen.
Sprache formt Realität
Sprache formt Realität [3]. Dessen muss ich mir als Mensch bewusst sein, speziell in der Rolle Führungskraft. Die Art, wie wir über Situationen, Menschen sprechen, formt unser eigenes Handeln und die Haltung – siehe Watzlawick [7], und auch das Handeln der gemeinten, egal ob sie es hören oder nicht, was ich sage.
Ich kann als Mensch in einer Leitungsfunktion zum Beispiel sagen: „Ich möchte den Mitarbeitern meine Gedanken zu diesem Problem mitteilen.“
Oder in Bezug aufs Management: „Wir müssen den Sachstand erläutern.“
Oder in Bezug auf eine anstehende Veränderung: „Wir müssen die Änderung erläutern und Bedenken und Sorgen klären.“
Mir ist schon klar, dass Metaphern gern verwendet werden. Aber dann lassen Sie uns bitte Metaphern verwenden, die Ihrem Gegenüber ein aktives Mitdenken und Mit-Handeln zusprechen.
Denn das will ich doch: denkende und handelnde Kollegen.
Literatur
- [1] „Hilflosigkeit, erlernte – Lexikon der Psychologie“. [Online]. Verfügbar unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/hilflosigkeit-erlernte/6552.
- [2] M. E. P. Seligman, Helplessness: on depression, development, and death. San Francisco: Freeman, 1975.
- [3] „Linguistik: Wie die Sprache das Denken formt – Spektrum der Wissenschaft“. [Online].
- [4] „Subsidiarität | bpb“. [Online].
- [5] G. Wohland und M. Wiemeyer, Denkwerkzeuge der Höchstleister: warum dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen, 3., aktualisierte und erw. Aufl. Lüneburg: Unibuch-Verl, 2012.
- [6] C. Heath, D. Heath, und A. Gittinger, Switch: Veränderungen wagen und dadurch gewinnen. Frankfurt, M: Scherz, 2011.
- [7] P. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen, 30. Aufl. München Zürich: Piper, 2004.
- [8] Dubbel, Daniel. „Betroffene zu Beteiligten machen“. Inspect & Adapt (blog), 31. Oktober 2019.
- [9] „Engagement Index Deutschland“, Gallup. [Online].
Foto: www.joachimschlosser.de
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