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Industrie 4.0 – Tsunami der Digitalisierung

Was wir heute bereits sehen, ist dass jeder Beruf darauf abgeklopft wird, ob er vielleicht automatisiert – durch einen Computer oder Roboter erledigt – werden könnte und zu welchen Kosten. Gunter Dueck warnt in Professionelle Intelligenz davor, diese Entwicklung zu unterschätzen.

Im Bestreben, die Entwicklungsarbeit in Unternehmen zu optimieren, wird oftmals rein auf den Zeit- und Kostenfaktor geschaut. Das ist einerseits begrüßenswert, weil schlichtweg viele unnötigen Schritte eingespart werden können, und durch zunehmende Automatisierung weitere Schritte nur noch teilweise oder gar nicht mehr händisch bearbeitet werden.

Andererseits ist es zu kurz gedacht. Deutlich zu kurz.

Industrie 4.0, die Messe und die Masse

Anlässlich der Hannover Messe zu Industrieautomation gibt Oliver Schmidt in seinem Artikel Missverständnisse 4.0 ein Plädoyer, um Digitalisierung und ihre Auswirkungen in der Industrie 4.0 ernster zu nehmen als er es derzeit in der deutschen Industrie erkennt.

Tom Goodwin schreibt: »Uber, the world’s largest taxi company, owns no vehicles. Facebook, the world’s most popular media owner, creates no content. Alibaba, the most valuable retailer, has no inventory. And Airbnb, the world’s largest accommodation provider, owns no real estate. Something interesting is happening.«

Also etwa: »Über, weltgrößtes Taxiunternehmen, besitzt keine Fahrzeuge. Facebook, weltgrößter Boulevard-Medienanbieter, erzeugt keine Inhalte. Alibaba, wertvollster Einzelhändler, hat kein Lager. Und Airbnb, weltgrößter Anbieter von Unterkünften, besitzt keinen Grund. Etwas interessantes passiert gerade.«

In Digitalisierung der Entwicklung schrieb ich bereits über die Umbrüche, die die zunehmende Automatisierung in der Softwareentwicklung birgt.

Letztendlich führt dies zu den vielen, vielen Fragen der Artikelserie über autonomes Fahren, die sich mit dem zu erwartenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichem Umbruch durch autonome Fahrzeuge beschäftigt.

Und es führt zu Fragen, die Sie sich stellen sollten, um einzuordnen wo sie stehen, wenn klar wird, dass der Tsunami oder die Eruption der Digitalisierung nicht dann aufhören, wenn es noch um graduelle Änderungen geht.

Was tun mit der frei werdenden Zeit?

Die Frage ist: Was machen die Unternehmen mit dem eingesparten Aufwand? Soll die Entwicklungsmannschaft verkleinert werden? Oder geht es rein darum, mit Produkten schneller an den Markt zu kommen?

Schneller zu entwickeln ist kein Selbstzweck, auch nicht in Industrie 4.0.

Was soll mit den frei werdenden Ressourcen erreicht werden? Je nach Unternehmen mag die Antwort unterschiedlich ausfallen. Wenn Ingenieure – Softwareentwickler, Maschinenbauer, Elektronikentwickler – von vielerlei zeitraubenden manuellen Arbeitsschritten entbunden werden können, dann kann Raum entstehen für Kreativität. Kreativität, um neue Produkte zu ersinnen. Neue Geschäftsmodelle auszudenken, mit den dafür passenden Produkten und Dienstleistungen.

Oder die Firma fährt einfach mehr Entwicklungsprojekte pro Zeiteinheit und erhöht die Auslastung. Warum das nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss ist, dürfen Sie in Duecks Schwarmdumm nachlesen.

Was ist der Gründungsmythos, die Gründungsgeschichte Ihrer Firma?

Was wurde früher mit freier Zeit angefangen?

Fakt ist, dass in einem breiten Landstrich vom Schwarzwald in Baden-Württemberg bis in die Oberpfalz in Bayern eine sehr große Anzahl an Maschinenbaufirmen existiert, die alle bereits zwischen sechzig und einhundertsechzig Jahren existieren. Sie sind oftmals in ihrer Mikro-Nische Weltmarktführer.

Warum gerade in diesem Landstrich? (Natürlich gibt es in Deutschland mehrere solcher Landstriche.) Eine Legende über den Schwarzwald besagt, dass die Menschen dort so erfinderisch waren (sind!?), weil die Winter lang und hart waren, und die Menschen im Winter ohnehin nicht ihrer üblichen Tätigkeit nachgehen konnten. Eingeschneit in der Stube, was blieb anderes als zu sinnieren über das eigene Dasein, über technische Problemstellungen und wie diese gelöst werden könnten?

Viele Erfinder der Industrie 1.0 und 2.0 durchliefen eine formale Bildung erst nachdem sie ihre initiale Erfindung bereits geschafft hatten, um das, was sie da entwickelt hatten, zur Serienreife zu bringen.

Wann saßen Sie zum letzten Mal scheinbar untätig herum und gingen einer Idee nach, bis Sie sie realisierten?

Robustheit statt feingliedriger Kontrolle

Oliver Schmidt schreibt in seinem Artikel vom Missverständnis Wir haben alles unter Kontrolle. Das ist in der Tat ein Missverständnis. Alles unter Kontrolle nimmt an, dass die Welt ein lineares Regelungssystem ist. Die Ingenieure und Regelungstechniker unter uns wissen, dass das nicht so ist. Wenn ich ein System am derzeitigen so genannten Arbeitspunkt perfekt unter Kontrolle habe, dann meist unter der Annahme, dass sich das System linear verhält. Also ich gebe mehr Saft auf den Motor und dieser dreht entsprechend schneller.

Dies funktioniert, so lange der Systemzustand sich ungefähr um den Arbeitspunkt herum bewegt, der der Ausgangspunkt für den Regler war.

Sobald der sich Systemzustand gröber ändert, stimmen die Annahmen nicht mehr. Der Regler regelt nicht mehr so wie erwartet. Das System schwingt auf, gerät außer Kontrolle, versagt, macht Unsinn.

Die Regelungstechnik kennt dafür viele Konzepte robuster Regelung.

Adaptive Regler passen sich an Umgebungsbedingungen an.

Fuzzy Logic Regler wenden verschiedene Reglerstrukturen auf verschiedene Arbeitsbereiche an und sorgen für einen gleitenden Übergang zwischen diesen.

Wie robust ist Ihr Regler, Ihr System, auf dem Sie Ihr Geschäftsmodell bauen? Und wie gut können sie dieses ändern?

Prozess-Skeumorphismus

Was wir derzeit sehen, ist vielfach Prozess-Skeumorphismus.

Bestehende althergebrachte Konzepte, Prozesse und Methoden werden einfach ins digitale übertragen.

Sie benutzen einen Taschenrechner, aber führen letztendlich die Multiplikation immer noch Schritt für Schritt händisch aus. Statt die gesamte Berechnung zu automatisieren.

Da werden Formulare elektronisch nachgebildet, aber nach wie vor reihum zum Abzeichnen gegeben. Da werden Prozesse als E-Mail-Ketten realisiert. Statt den Prozess neu zu denken mit den Möglichkeiten, die der Computer bietet.

Da werden statt komplizierter Aktenordnersysteme eben komplizierte Dateiordnersysteme erschaffen, wahre Kathedralen an E-Mail-Ordnern. Statt die Volltextsuche, Indizierung und Verschlagwortung zu nutzen.

Da wird nach früher komplett händischer Programmierung nun ein Rahmenwerk generiert, aber die eigentlichen Algorithmen immer noch von Hand ersonnen und in das Rahmenwerk integriert, wobei eine Umstrukturierung des Systems die ganze Infrastruktur sehr komplex und kompliziert macht. Statt gleich das händische Programmieren in klassischen Programmiersprachen abzuschaffen und mit grafischen Verhaltensmodellen zu arbeiten, die auch noch simuliert werden können. Um daraus dann vollautomatisch Code zu erzeugen, der auf Systemebene optimiert werden kann.

Die Reaktion auf Digitalisierung ist oftmals, es genauso zu machen wie zuvor, nur eben mit dem Computer.

Vielfach sind bestehende Prozesse und Geschäftsmodelle natürlich nicht das beste, was vorstellbar war, sondern das beste, was mit den zur Verfügung stehenden Mitteln realisiert werden konnte.

Viele dieser Beschränkungen existieren im Digitalen, in der Industrie 4.0 nicht mehr. Die Beschränkungen sind nurmehr in der Vorstellungskraft der Entwickelnden. Und das ist es, worauf auch der VDI hinweist.

Welche zwei Ihrer Prozesse sind lediglich digitale Nachbildungen eines papierhaften Arbeitsflusses?

Exponentielles Denken und Simulation

Oft sah ich in meiner Vergangenheit als Application Engineer, dass Simulation eingeführt wurde als ein Mittel, einige teure und zeitraubende reale Tests einzusparen. Statt komplett alles in echter Hardware aufzubauen, werden Teile des Systems modelliert und mit dem realen System verschalten. Das nennt sich dann Hardware-in-the-Loop. Diese HiL-Simulation ist ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zum getesteten System.

Doch Hardware-in-the-Loop als Allheilmittel zu sehen, verkennt den wahren Charakter der Digitalisierung. Denn was ich nun zunehmend brauche, sind mehr dieser verhältnismäßig kostenintensiven Hardware-in-the-Loop-Systeme, die Spezialhardware und viel Wartung erfordern.

Exponentielles Denken ist anders: Welche Teile meines Systems muss ich modellieren, um zu einer aussagekräftigen Simulation zu gelangen?

Sobald diese Simulation existiert, kann ich die Funktion eines System viel weitergehender testen. Denn eine Simulation skaliert viel leichter. Wenn der lokale Computer nicht ausreicht – und das wird er rasch nicht mehr – kann ich Cluster und Cloud nutzen, um die Simulationen berechnen zu können.

Dieser Schritt scheint vielen schwer zu fallen. Wenn ich meine Simulation schon mal abfahren kann, was hindert mich dann noch daran, nicht nur mehr Testszenarien durchzufahren, sondern auch noch viele Parameter intelligent und automatisiert zu verändern?

In meinen Thesen zu Industrie 4.0 schrieb ich »Laterales Denken ist für Industrie 4.0 ebenso nötig wie die Fähigkeit mit Modellierung und Simulation umzugehen.«

Digitalisierung in der Entwicklung mittels Simulation erlaubt deutlich größere Fragen als Funktioniert mein System so, wie ich es mir ausgedacht habe?. Die Frage kann nun lauten Wie lautet eine optimale Konfiguration meines Systems, so dass es robust unter denkbaren und undenkbaren Szenarien funktioniert?.

Exponentielles Denken sieht Simulation nicht nur als ein Verifikations- und Validierungswerkzeug, sondern als ein Mittel, auf neue Ideen und Ansätze in der Entwicklung zu kommen.

Was würden Sie gerne mal ausprobieren, was Ihr momentanes System oder Gerät nicht erlaubt?

Visionär oder etwas, das gerade so funktioniert?

Viel zu oft wird etwas entwickelt, das gerade so eben die Anforderungen erfüllt.

Gerade schön genug. Gerade schnell genug. Gerade sparsam genug. Gerade sicher genug.

Weil eben die Zeit fehlt, oder die Kapazität, auch vollkommen schräge Entwürfe mal einem Funktionstest unterziehen zu können.

Die Digitalisierung der Entwicklung bietet Möglichkeiten, genau das zu tun.

Probieren Sie das schräge, das nicht naheliegende aus. Wenn Sie es nicht tun: Es wird sich jemand finden der es tut.

Was, wenn Sie für eine Woche keinerlei Design-Einschränkungen hätten, und jegliches Design ausprobieren könnten? Was würden Sie tun?

Schumpeter oder die Ethik der schöpferischen Zerstörung

Schöpferische Zerstörung (Wikipedia ist ein ökonomisches Konzept, das hauptsächlich durch Josef Schumpeter bekannt wurde. Es besagt, dass wahre Innovation und Fortschritt immer auch bedeuten, dass etablierte Strukturen und Produkte verdrängt und zerstört werden.

Sie sind Entwickler, Ingenieur, Unternehmer? Sie wollen tatsächlich die Welt verbessern?

Das wird mit lokaler Optimierung allein nicht zu bewerkstelligen sein.

Ein Auto, das zwei Prozent weniger Sprit verbraucht? Nett, aber nicht wirklich zielführend, denn es verbraucht ja immer noch Sprit.

Den Welthunger um drei Prozent reduzieren? Nett, dann bleiben noch 97%.

Durch eine neue Fördertechnologie in fünf Prozent mehr Lagerstätten bohren können? Nett, aber löst das Ölproblem nicht wirklich.

Industrie 4.0 und die Digitalisierung der Entwicklung geben Ihnen ein großes Werkzeug an die Hand. Die Vorstellungskraft begrenzt das, was Sie tun können.

Ich halte es für unsere ethische Pflicht, weiter zu denken. Das treibt mich an. Ethik und Fortschritt sind damit nicht gegensätzlich, sondern gehören zusammen.

Wollen wir tatsächlich etwas bewegen? Das wird nicht ohne gröbere Umbauten von statten gehen. Werden wir Fabriken mit weniger Fabrikarbeitern sehen? Selbstverständlich, genau so passierte es in der Industrie 1.0, 2.0, 3.0. So geschah es in der Landwirtschaft. So geschieht es bei Reisebüros. So geschieht es bei Privatkundenbanken.

Und genau so wird es auch in der Entwicklung geschehen. Wenn Sie sich als Embedded-Programmierer sehen, dann ist jetzt eine gute Gelegenheit, dieses Selbstbild auf den Prüfstand zu stellen.

Tun Sie das beispielsweise bei der Berufsabfrage der Süddeutschen.

Und Sie?

Wie sehen Sie das?

Lassen Sie die anderen Leser ebenso wie mich bitte teilhaben an Ihren Gedanken und kommentieren Sie!

Disclosure: Ich arbeite bei MathWorks, dem Hersteller von MATLAB & Simulink, und verdiene meinen Lebensunterhalt durch die Fähigkeit der Software, bei der Lösung einiger der beschriebenen Aufgabenstellungen zu helfen. Dieser Artikel gibt meine persönliche Meinung wieder und stellt keine offizielle Verlautbarung dar.

Photo: Steve Jurvetson on Flickr, License Creative Commons Attribution

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