Wir leben in einer ziemlich hysterischen Zeit. Irgendjemand schreibt etwas ins Internet, sagt auf einem Kongress oder in einer politischen Debatte, und sofort fühlen sich Menschen angegriffen, zetern, wüten. Ein Sturm der Entrüstung bricht los, und bisweilen werden als Resultat neue Regeln aufgestellt. Warum ist das so? Es hängt am Denken.
Beispiel 1: Down
Nehmen wir eine aktuelle Diskussion: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn möchte einen pränatalen Trisomie–21-Test zur Kassenleistung machen. Ein Sturm der Entrüstung bricht los, hauptsächlich in Internetforen, doch auch seriöse Tageszeitungen springen auf den Zug auf und räumen subjektiv gefärbten Geschichten mehr Platz ein als dem sachlichen Diskussionsstand und den eigentlichen Fakten, über die sie informieren sollten.
Was passiert hier? Der geneigte Leser möchte und sollte ein moderner, human orientierter Mensch sein, der das Leben allgemein und menschliches Leben im Speziellen über alles schätzt. Legen wir manchen dieser Menschen nun die Idee vor, auf einfache Weise bereits in einer frühen Phase der Schwangerschaft den Gendefekt Trisomie 21 erkennen zu können, so assoziiert dieser sofort mit Schwangerschaftsabbruch und stößt auf einen Konflikt mit seiner Identität als human orientierter Mensch.
Und da sind wir auch schon: Für oder gegen Schwangerschaftsabbrüche aufgrund von Behinderungen zu sein ist ein Gedanke als Teil einer Grundhaltung. Mache ich diesen Gedanken zum Teil meiner Identität, so erscheint mir jeder Vorschlag, der davon abweicht, als Angriff auf meine Identität. Identität essen Gedanken auf.
Das hat dann auch nichts mehr mit Realität zu tun, denn im konkreten Fall ist ja die Frage nicht, ob der spezielle Bluttest für Trisomie 21 überhaupt verwendet werden darf, sondern lediglich, ob er Kassenleistung wird. Der Unterschied ergibt sich aber erst, wenn ich mir erlaube, darüber nachzudenken. Dann erkenne ich, dass Menschen diesen Test auch ohne Kassenleistung bekommen können. Dabei blieben dann aber besonders diejenigen benachteiligt, die aus finanziellen und sozialen Gründen noch viel mehr überfordert von einem Down-Kind wären als finanziell besser gestellte Eltern.
Nur wenn ich mir erlaube, diesen Gedanken zu denken, sehe ich, dass das Problem noch nicht einmal dieser Bluttest ist, weil auch andere Diagnostik existiert. Wenn nun in Statistiken 9 von 10 werdende Müttern sich mit positiven Testergebnis für einen Abbruch entscheiden würden, dann bedroht diese namenlose Masse meine Identität als human orientierter Mensch noch viel mehr. Deshalb erscheint der Test als Kassenleistung folglich als böse. Die 9 von 10 werdenden Müttern laufen ja aber nicht herum und hüpfen vor Freude endlich ein Down-Kind abtreiben, sondern fühlen sich verständlicherweise überfordert von der Verantwortung und Last.
Andere hingegen entscheiden sich trotz positivem Test für das Down-Kind und werden später meist diese Entscheidung als richtig empfinden. Dies gehört zu einer unbewussten Überlebensstrategie, sich emotional und gedanklich anzupassen. Gerne dürfen betroffene Eltern ihre Erfahrung als Teil der Information einbringen, sollten jedoch nicht als alleinige Grundlage für Entscheidungen und moralischen Imperativ benutzt werden.
Aus einem positiven Erleben eines fröhlichen Down-Kindes nun eine Verpflichtung für werdende Eltern ableiten zu wollen, einen vermeidbaren Schicksalsschlag erleiden zu müssen, passt bei genauerer Betrachtung auch nicht wirklich zu einer human orientierten Identität. Es ist doch positiv, wenn werdende Eltern früh erfahren können, was Sache ist. Dies gilt explizit auch dann, wenn sie sich bei einem positiven Ergebnis für das Kind entscheiden. Haben sie doch so Zeit, sich entsprechend vorzubereiten.
Doch diese Gedanken erlauben sich Menschen nur, wenn sie nicht eine der beiden Möglichkeiten zu ihrer Identität gemacht haben. Man darf jede Meinung haben, sollte sie jedoch soweit von sich trennen können, um den eigenen Standpunkt fortwährend überprüfen und weiteren rationalen Argumenten zugänglich machen zu können.
Bedrohte Identität vs. offen denken
Sobald jemand seine Identität bedroht sieht, schlägt er um sich. In der Vergangenheit hauptsächlich tätlich, heutzutage meist verbal. Auf jeden Fall kann jemand, der sich in seiner Identität bedroht fühlt, nicht mehr frei zuhören und schon gar nicht frei und offen denken.
Offen denken ist aber eine Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Diskurs und allerseits gute Lösungen. Wer sich aus emotionalen Gründen einem Diskurs verweigert, kann nicht mehr Teil der Lösung sein, und entweder eine objektiv gute Lösung ganz zu Fall bringen, oder aber keinen konstruktiven Einfluss auf die Lösung nehmen und muss nehmen, was kommt.
Beispiel 2: Geld
Ich selbst habe den Gedanken, dass man verarmt, wenn man Geld ausgibt für Dinge, die man nicht wirklich braucht. Dieser Gedanke ist über Jahrzehnte Teil meiner Identität geworden, und ich benötige fortwährend einiges an Anstrengung, das wieder auseinander zu bekommen.
Der Gedanke ist alt, und stammt wahrscheinlich aus der gedanklichen Erbmasse meiner Großeltern, die als Flüchtlinge aus Tschechien nach Nordbayern kamen. Den Gedanken hatte ich also noch nicht einmal originär selbst, sondern Vater oder Mutter meines Vaters. Der Gedanke enthält durchaus einen sinnvollen Kern, denn tatsächlich kann man durch unnötige Geldausgaben seinen finanziellen Spielraum sehr einschränken. Das ist genau der Punkt: Als Gedanke ist das sehr sinnvoll. Als Identität nicht.
Habe ich dieses Nicht-Geldausgeben als Identität, dann fühle ich mich sofort als Person bedroht, wenn eine Anschaffung ansteht. Sie können sich vorstellen, was emotional bei mir los war, wenn wir ein Auto kauften, oder Möbel, oder irgendetwas kaputt ging. Ich habe sogar bisweilen heute noch bei Anschaffungen für mich selbst das Bedürfnis, diese entweder vor mir zu rechtfertigen oder am besten irgendwie gar nicht offen zu tätigen. Es kostet mich Kraft, mir bewusst zu machen, dass die Angst vor dem Verarmen ein Gedanke ist, jedoch keine Ausgabe meine Identität als Mensch berührt. Schlimmer noch: wenn ich trotz der Identität etwas tun möchte, dann werde ich mich selbst belügen und Rechtfertigungen erfinden, um eben diese Identität nicht zu gefährden. Deshalb braucht es einen Unterschied zwischen Identität und Gedanke.
Erst, wenn ich begreife, dass der Gedanke etwas ist, das ich denke, nicht etwas, das ich bin, kann ich den Gedanken annehmen oder auch verwerfen.
Gedanken haben, nicht Gedanke sein
Paul J. Kohtes spricht in einer Meditation von 7mind einen ganz tollen Satz:
„Du bist nicht dein Gedanke. Du hast einen Gedanken.“
Das ist genau der zentrale Punkt. Ich bin nicht meine Gedanken. Das erlaubt mir, auf meine Gedanken zu blicken und festzustellen: Ah, da ist ein Gedanke, der ist ja interessant, da denke ich mal weiter dran rum. Wo ich einen Gedanken habe, darf ich auch mehrere unterschiedliche Gedanken zum gleichen Thema haben. Wenn ich hingegen der Gedanke bin, dann meine ich, nur diesen einen Gedanken denken zu dürfen.
Die meisten Menschen, die sich schnell von Meinungen, Neuigkeiten und Aussagen von anderen, die sich nicht auf die einzelne Person beziehen, beleidigt und angegriffen fühlen, vermischen ihre Gedanken mit ihrem Sein.
Es tut uns allen gut, uns immer wieder bewusst zu machen, dass nicht ein Gedanke allein mich ausmacht. Ich denke einen Gedanken, nicht ich bin der Gedanke.
Distanziertheit und Beispiel 3: Beruf
Auch im Berufsleben hilft Distanziertheit, Lösungen zu finden. Mir gefällt ja der englische Begriff „detachment“ noch besser, den ich regelmäßig im Advanced Selling Podcast erläutert bekomme.
Die Distanziertheit zu Gedanken hilft auch zu Distanziertheit zu Situationen, etwa im Beruf.
Ist ein Projekt in Schieflage, so hat dies nichts mit meiner Identität als Mensch zu tun, sondern etwas mit dem, was ich im Projekt tat oder eben nicht tat, oder jemand anders tat oder nicht tat. Ich brauche nicht herumbrüllen, ich brauche niemanden angreifen und niemanden niedermachen. Ich brauche niemanden massiv unter Druck setzen. Denn das Projekt ist nicht meine Identität. Mein Beruf ist nicht meine Identität. Ich bin nicht mein Beruf, ich habe einen Beruf.
Genauso wie Gedanken zur Identität werden können, so definieren sich manche ausschließlich über ihre Arbeit. Das führt bei manchen Menschen zu Burnout, weil sie nicht mehr trennen können zwischen Scheitern in einer Aufgabe und Scheitern als Person. Ein fest mit ihrer Identität verwobener Beruf lässt sie nicht mehr atmen, und jede Veränderung, jede Krise im Beruf führt dann zu einer Identitätskrise. Das muss nicht sein. Denn ich ich bin nicht mein Beruf. Ich habe einen Beruf.
Diese Distanziertheit ist ja nichts, was ich erfunden habe oder erst in neuerer Zeit auf dem Markt ist. Es ist im Prinzip die Lehre der Stoiker, wie wunderbar modern im Buch The Obstacle Is The Way (Amazon) beschrieben.
Offen denken
Offen denken heisst sich zu erlauben, unterschiedliche Gedanken zu denken.
Jeder Mensch darf alles denken. Das bedeutet ja nicht, dass jeder Mensch alles tut, was sie denkt, doch zumindest denken sollten wir alles dürfen. Eine Verknüpfung von Gedanke mit eigener Identität verhindert das jedoch bisweilen.
Erlauben wir uns Gedanken zu denken, die unseren üblichen Gedanken widersprechen oder deutlich darüber hinaus gehen.
Erzählen Sie mir: Wo begegnet Ihnen selbst Ablehnung, weil Menschen ihre Identität an bestimmte Gedanken hängen?
Ich darf alles denken. Das heißt nicht, dass ich auch alles gut finden muss. Ich darf einen Gedanken denken, Vorteile und Nachteile abwägen und hernach den Gedanken immer noch nicht mögen. Ich darf sogar den Gedanken als nützlich erachten und befolgen und trotzdem nicht mögen.
Aber denken sollte ich. Und zwar eigene Gedanken und fremde Gedanken. Gewohnte Gedanken denken und neue Gedanken denken.
Ich darf alles denken, und Sie dürfen auch alles denken.
In diesem Sinne:
Think.
Schreiben Sie einen Kommentar