„Der Karren sitzt im Dreck. Das Projekt kriegen wir nur wieder flott, wenn wir den Maier dazu holen. Der ist ein Macher, der hat das letzte Projekt auch wieder halbwegs gefixt gekriegt.” – und viel, viel später, in einer internen Ansprache des Oberbosses: „Wir alle erinnern uns, wie das Projekt uns Kopfzerbrechen bereitete, wie der Kunde unzufrieden war und nichts funktionierte. Herr Maier übernahm das Projekt, und heute können wir mit Stolz auf die Ergebnisse schauen. Er hat mit dem Team das Projekt nochmal herumgerissen und geliefert. Ihr könnt stolz sein auf das, was ihr erreicht habt. Es war bestimmt nicht leicht und erforderte so manches Opfer, doch letztendlich zeigt sich, dass wir immer erfolgreich sind.”
Braucht Ihre Firma Helden? Gibt es in Ihrer Firma Helden? Ganz wenige Leute, die in Krisensituationen immer wieder angefragt werden? Gibt es einen Kreis von Helden? Wenn Sie mehrere Fragen mit „ja“ beantwortet haben, dann herrscht in Ihrem Unternehmen möglicherweise eine Heldenkultur.
Dieser Artikel ist ein Folgeartikel zu „Problem-Ursache: Person oder Struktur?“. [0]
In Unternehmen sind die Helden oft auch gleichzeitig die High Performer, diejenigen, die den Karren aus dem Dreck ziehen können. Jetzt jedoch wird es kompliziert: Was ein High Performer ist, hängt vom Kontext ab.
In einer Heldenkultur wird der Held eben als solcher verehrt, und die besonderen Fähigkeiten für die Wertschöpfung benötigt. Eine Heldenkultur braucht Helden. Doch eine Heldenkultur braucht eben auch Katastrophen und Schlachten, in denen Helden erforderlich sind.
Wohl niemand führt bewusst Katastrophen herbei und ruft Schlachten aus, nur damit Helden geboren werden und sich bewähren können. Oftmals sind ja sogar diejenigen, denen die Schuld für das Entstehen von Katastrophen gegeben wird, andere, als nachher die Helden.
Helden-Teams: die Task-Force
Der Held muss nicht eine Einzelperson sein. Es kann auch ganze Helden-Teams geben. Das sind diejenigen, die dann beispielsweise eine Task-Force bilden. Task-Force, das ist „für eine begrenzte Zeit gebildete Arbeitsgruppe [mit umfassenden Entscheidungskompetenzen] zur Lösung komplexer Probleme.“ [1]
Das klingt ja schonmal nicht schlecht. Begrenzte Zeit. Nur dass die Begrenzung bisweilen sehr, sehr weit gefasst ist und die Task Force viele Monate oder ganze Jahre besteht. Interessanterweise gibt es meist daneben noch das normale Projekt-Team. Irgendwie ist die Task Force also herausgehoben.
Auch mit umfassenden Entscheidungskompetenzen klingt gut. Wie umfassend diese Kompetenzen sind, kann man immer daran sehen, zu welchen Dingen die Task Force sich dann doch der eigenen Organisation rückversichern muss.
Lösung komplexer Probleme ist eine wunderbare Aufgabe. Die Frage bleibt, wie die Probleme entstanden. War das Problem immer schon komplex, dann ist die Task Force der Normalzustand und es ist tragisch, dass sie erst so spät gebildet wurde. War das Problem vorher nicht komplex, dann haben äußere und innere Umstände das komplizierte Problem zu einem komplexen Problem gemacht.
Oft sitzt eine Task-Force zusammen, oft in Kundennähe, und je nach Status des Projekts auf dessen explizite Aufforderung, wenn zugesagte Lieferergebnisse ausbleiben. Das bedeutet aber auch, dass Menschen an Orten arbeiten, an denen sie normalerweise nicht arbeiten würden. Sie verbringen ganze Wochen woanders. Andere Berufsgruppen kennen das – man ist auf Montage. Das zusammen sitzen der Task Force befördert die Zusammenarbeit, viele Zusammenarbeitsmodelle im agilen Kontext heben die Wichtigkeit der Kolokation besonders hervor. Die höhere Stufe davon ist die Kolokation mit dem Kunden. Die Frage ist, ob eine reine Kolokation mit dem Kunden gegeben ist, oder ob auch wirklich Zusammenarbeit in hoher Frequenz besteht, die diese Kolokation wirklich rechtfertigt, oder ob die Struktur der Zusammenarbeit sich nicht wesentlich unterscheidet vom normalen Projekt.
Unterschied zwischen Held und Linchpin
„Ja aber es gibt doch auch im positiven Sinne die Leute, die etwas bewegen. Ist das denn nicht wunderbar, dass es diese Menschen gibt?“
Doch, ist es. Wenn wir zurück schauen in Seth Godins Buch Linchpin: Are You Indispensable? [2], dann steht dort, was ein Linchpin (engl. Herzstück, Stütze, Achsnagel, Dreh- und Angelpunkt) in einer Organisation ist: jemand, der durch sein weiter denken, sein proaktives Handeln die Welt um sich herum besser macht. Nicht jemand, der hauptberuflich Krisen bewältigt, sondern jemand, der sich um das große Ganze verdient macht, indem er auch im kleinen agiert.
Ein Held [3] braucht per Definition den Kampf, die Katastrophe. Ohne Ausnahmesituation keine Helden. Ein Held tut unpopuläre und vielleicht auch grausame Dinge, um die Krisensituation aufzulösen, den Feind zu schlagen oder das Projekt zu retten. Der Held erfährt für die konkrete Tat Dankbarkeit und Aufmerksamkeit.
Dankbarkeit für die konkrete Tat unterscheidet den Held vom Linchpin. Letzterer erfährt oft allgemeine Wertschätzung, die sich aber nur schwer an einzelnen Handlungen festmachen lässt. Weil der Linchpin ja meist nicht in großen Gesten und Kampfhandlungen am besten wirkt, sondern durch all sein tun die Organisation und aller derer, die darin leben, besser macht.
Ein Linchpin braucht keine Katastrophen, keine Kämpfe, keine Krisen. Sie macht es einfach besser für die Menschen um sie herum, für die Organisation. Durch Aufmerksamkeit auch den Kleinigkeiten in den Interaktionen gegenüber, durch Aufmerksamkeit der Wirksamkeit von Prozessen gegenüber, und durch handeln. Ein Linchpin erschafft Arete, also offensichtlich Hervorragendes. [4, 10]
Natürlich kann es Helden geben, die auch Linchpin sind. Doch besteht keine automatische Kausalität in irgendeiner Richtung. Und ich möchte nur daran erinnern, dass im Feuerwehr-Film Backdraft von 1991 der Feuerwehrmann der Brandstifter war.
Struktur erschafft Katastrophen
Katastrophen sind Ereignisse mit dramatischen Auswirkungen. Ein Hochwasser ist nur dann eine Katastrophe, wenn es sich über mehr als die vorgesehenen Auen ergießt. Katastrophen entstehen, wenn keine geeigneten Maßnahmen zu Eindämmung der Auswirkungen von Ereignissen getroffen wurden, oder umgekehrt sogar Maßnahmen getroffen wurden, die die Auswirkungen vergrößern. Um beim Hochwasser zu bleiben: Wenn ich eine Siedlung in die Auen baue, habe ich damit strukturell eine Katastrophe verursacht, sobald eben das Ereignis Hochwasser auftritt.
Ein Projekt stellt eine Struktur zur Erschaffung eines Wertes dar. Die Art und Weise, wie der Wert in der Gesamtorganisation geschaffen wird, nennt man auch Wertschöpfung.
Wenn ich nun in einem Projekt dergestalt Strukturen schaffe, die das Risiko eines Ausfalls der Wertschöpfung vergrößern, dann kommt es eben mit gewisser Wahrscheinlichkeit irgendwann zum Knall. Je mehr unterschiedliche Risiken strukturell bestehen, desto eher wird die Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Stockens der Wertschöpfung nahe eins sein.
Struktur begünstigt Katastrophen
In Organisationen ist es ebenso. Menschen verhalten sich wohl selbstbestimmt, aber innerhalb der durch das System, in dem sie leben, vorgegebenen Handlungsräume. [5] Derselbe Mensch verhält sich in einem Team, das auf ultimativer Selbstverantwortung basiert, ganz anders als in einem tu-genau-was-ich-sage System. Es gibt Menschen, die privat große Vereine führen, aber in der Arbeit den Mund nicht auf und den Arsch nicht hoch bekommen.
Natürlich gibt es schüchterne Menschen, es gibt Extravertierte, es gibt Introvertierte. Es gibt detailversessene Menschen, es gibt Plauderer, es gibt Zauderer. Es gibt risikobereite Menschen, es gibt risiko-averse. Doch die grundlegende Prägung eines Menschen lässt gewaltige Spielräume für das tatsächliche Verhalten, und dieses Verhalten wird geformt durch das System, in dem der Mensch lebt.
Beispiele von Organisationen und Strukturen
In so mancher Organisation, die ich bei Kunden antreffe, herrscht ein System, das keine Zeit lässt, Dinge ruhig und nachhaltig anzugehen, wenn ein Projekt startet. Da wird sofort gezimmert und getan. Bei diesen Kunden gibt es oft praktisch keinen Invest in Infrastrukturen, die jedem Softwareprojekt eine beliebig reproduzierbare und skalierbare Umgebung zur Entwicklung bereitstellen würde. So baut das Projekt im Nu technische Schuld auf, die Aufwände für Test steigen, und die Krise kommt, und mit der Krise die Notwendigkeit für Helden.
In anderen Kunden-Organisationen existieren Vertrieb und Marketing nebeneinander her, es gibt nur wenige, unverbundene Messgrößen, und die Hauptmaßzahl für Vertriebserfolg ist der Auftragseingang, nicht die Profitabilität. In einem solchen System gedeihen isolierte Marketing-Maßnahmen statt integriertem Marketing, das auf langfristigen Kundennutzen ausgelegt ist und in jeder Interaktion potentiellen Kunden bereits Mehrwert liefert. Es braucht in einem solchen System Helden-Vertriebler, die es „allein reißen“ können. In solchen Systemen wird freilich danke üppiger Rabatte viel Auftragseingang erzeugt, nur hat die Organisation dann oft mit den gewonnenen Aufträgen nur wenig Spaß, weil nicht, nur schwerlich oder nur mit Verlusten zu erfüllen.
In wieder anderen Organisationen, auf die ich treffe, herrscht Misstrauen aller Orten. Keiner darf irgendetwas ohne höhere Management-Freigabe bestellen, es gibt viele Formulare, und es muss viel unterschrieben werden. Teile der Organisation, die mit Kunden zu tun hat, kommen in Bedrängnis, und immer wieder braucht es Helden, die am Prozess vorbei einfach machen, damit überhaupt noch gearbeitet werden kann. Dabei sind ja nicht unbedingt die Formulare und Freigabebedingungen eine Folge von Misstrauen, sondern genau andersherum. Wenn keiner selbst entscheidet und für Entscheidungen gerade stehen muss, dann übernimmt auch keiner Verantwortung, und ohne Verantwortung wächst kein Vertrauen.
Strukturen verändern
In allen drei Beispielen sind nicht die einzelnen Menschen die Ursache, und noch nicht einmal die Helden.
Es bleibt bei den Führungskräften. Je höher in der Hierarchie angesiedelt, desto höher ist die Verantwortung für die Strukturen und Systeme, die das Verhalten aller Mitarbeiter formen.
Es macht auch keinen Unterschied, ob eine Organisation eine „agile Transformation“ macht oder nicht, wenn diese nicht ganz oben ansetzt. Das propagierte Paradigma wird ganz automatisch und gnadenlos in die gültige Abteilungs- und Prozessstruktur gehämmert und dadurch bis zur Unkenntlichkeit verbogen. [9]
Was also tun?
1. Hören Sie auf, an Methoden zu glauben.
Methoden sind mächtig, aber nur, wenn sie auf eine dazu passende Struktur treffen. Das ist Ihr Metier: Die Strukturen schaffen.
2. Hören Sie auf, als Führungskraft ständig in Fachthemen abzutauchen.
Sie zementieren damit eine Verhaltensstruktur, die auf der fachlichen Dominanz der Führungskraft besteht. Das mag zwar schmeichelhaft für Sie sein, aber hochgradig schädlich für die Organisation. Geben Sie Ihr Wissen weiter, per Mentoring, per Fach-Coaching, per Training, per Shadowing, wie auch immer.
3. Hören Sie auf, Ihre gesamte Anerkennung auf bewältigte Krisen zu legen.
Natürlich darf eine Krise Ihre Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie gerade stattfindet. Wenn Sie jedoch danach alle Anerkennung für die Helden aussprechen und nicht für die „langweiligen“, stillen und einfach erfolgreichen Projekte, dann signalisieren Sie, dass man Krisen bewältigen muss, um hier was zu gelten. Denn es gilt: „Worauf man seine Aufmerksamkeit richtet, davon bekommt man mehr.“ [6]
4. Hören Sie auf, Abteilungen, Geschäftsbereiche und Stabsabteilungen als gegeben hinzunehmen.
Eine Umorganisation alleine hilft nichts, sie hilft vor allem dann nichts, wenn die grundsätzliche Struktur bestehen bleibt, nur alles anders heisst. Stabsabteilungen dürfen ebenso neu geschnitten oder komplett aufgelöst werden wie alle anderen Organisationseinheiten auch. Organisatorisch durchlüften lässt alle frisch durchatmen.
5. Hören Sie den Leuten zu.
In allen Kunden-Organisationen treffe ich immer wieder auf Leute, die wissen, wo es hingehen müsste, die ziemlich genau die strukturellen Schwächen benennen können. Nur in Ausnahmefällen sind diese Menschen auch gleichzeitig im Management. Denn schon Upton Sinclair sagt: „Es ist schwierig, Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn ihr Gehalt davon abhängt, es nicht zu begreifen.“ [7, 8]
Ruhig liefern statt Heldenkult
(„Liefern“ bezeichnet dabei jegliche Art von Wertschöpfung, also auch, wenn Sie nichts physisches irgendwohin fahren.)
Die zentrale Frage für jede Führungskraft sollte stets sein: Was muss ich tun, damit wir ganz ruhig und ohne großen Stress hervorragende Ergebnisse stets pünktlich liefern können und damit Geld verdienen?
Das mag ein Idealbild sein, doch eines, auf das es sich meiner Ansicht nach lohnt hinzustreben.
Offenlegung: Ich arbeite für Elektrobit im Consulting, verdiene also meinen Lebensunterhalt auch mit der Lösung von Problemstellungen wie der dieses Beitrags. Dieser Beitrag stellt meine persönliche Meinung dar und ist keine Verlautbarung der Firma.
Literatur
- [0] Schlosser, Joachim. „Problem-Ursache: Person oder Struktur?“ Dr. Joachim Schlosser (blog), 26. November 2019
- [1] „task force – Google-Suche“. Zugegriffen 21. Januar 2020. https://www.google.com/search?q=task+force.
- [2] Godin, Seth. Linchpin: are you indispensable? New York: Portfolio, 2010.
- [3] „Held“. In Wikipedia, 27. Dezember 2019. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Held&oldid=195268516.
- [4] Schlosser, Joachim. „Gunter Duecks Professionelle Intelligenz und Seth Godin’s Linchpin“. Dr. Joachim Schlosser (blog), 25. November 2011.
- [5] Luhmann, Niklas, und Dirk Baecker. Einführung in die Systemtheorie. 5. Aufl. Sozialwissenschaften. Heidelberg: Auer, 2009.
- [6] Gloger, Boris. Scrum: Produkte Zuverlässig Und Schnell Entwickeln. 5. Auflage. München: Carl Hanser Verlag, 2016.
- [7] Sinclair, Upton. I, candidate for governor: and how I got licked. Berkeley: University of California Press, 1994.
- [8] Mit Fischen besser nicht übers Fliegen sprechen || Vollmers GedankenGänge, Ep. 101. Zugegriffen 28. Januar 2020. https://www.youtube.com/watch?v=c5z9SVtfAlM.
- [9] J. Bosch, „Structure Eats Strategy“, Software Driven World, 25-Nov–2017. [Online]. Verfügbar unter: https://janbosch.com/blog/index.php/2017/11/25/structure-eats-strategy/. [Zugegriffen: 01-Juli–2019].
- [10] Dueck, Gunter. Professionelle Intelligenz: worauf es morgen ankommt. 1. Aufl. Köln: Eichborn in Bastei, 2011.
Foto: Dr. Joachim Schlosser Fotografie, 2019
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