Staerke und Schwaeche

Gelesen: Malcolm Gladwell – David und Goliath: Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen

Die biblische Geschichte von David gegen Goliath – ein Klassiker.

Der kleine Schafhirte traut sich als einziger mehr als das gesamte Israelitische Heer, knockt den riesigen Soldaten aus und schlägt damit die gegnerische Armee in die Flucht. Er legt damit den Grundstein für seine Berufung zum König.

Durch Schlauheit besiegt der Chancenlose den Übermächtigen.

War das wirklich so?

War Goliath tatsächlich übermächtig?

War David tatsächlich chancenlos?

Der (in zweifacher Hinsicht) New Yorker Journalist Malcolm Gladwell geht in seinem Buch »David und Goliath: Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen« der Frage nach, was die Hintergründe der Geschichte von David gegen Goliath sind und warum vermeintlich Unterlegene so oft besonderes vollbringen.

Warum hat der scheinbar Unterlegene einige exklusive Vorteile?

Wann wird Stärke zum Fallstrick?

David spielt nicht fair

Wie die anderen Bücher von Malcolm Gladwell, die ich bislang las, ist auch dieses Werk keine Anleitung, kein Ratgeber, keine streng wissenschaftliche Abhandlung. Sondern eine Sammlung von Anekdoten und Studien, aus denen Gladwell Muster aufzeigt und Schlüsse zieht.

Zunächst nimmt er sich die titelgebende Geschichte von David und Goliath vor.

Die Steinschleuder, mit der David seinen Gegner bezwingt, ist nicht das Y-förmige Stöckchen mit Gummiband, das wir alle bei dem Wort »Steinschleuder« im Kopf haben. Die Steinschleuder ist eine uralte Waffe, bei der ein Stein in eine Schlinge aus Leder gelegt wird. Der Schütze rotiert diese Schlinge sehr schnell über seinem Kopf und lässt im passenden Moment eine Seite der Schlinge los, so dass der Stein los fliegt, und bei hinreichender Übung zielgenau trifft. Der Impuls gleicht dabei dem einer modernen Kleinkaliberwaffe.

Die Steinschleuder war nicht nur bei Hirten beliebt, sondern auch eine eigene Waffengattung innerhalb der Armee, neben Infanterie und Kavallerie.

Und Goliath? Warum weicht er nicht aus? Warum sieht er nicht, was David vorhat? Zunächst geht Goliath davon aus, im Nahkampf Mann gegen Mann anzutreten, wie es damals Brauch war. Goliath wird als Riese beschrieben, der seine Kameraden weit überragte. Einige Hinweise in der Geschichte deuten auf eine Krankheit Goliaths hin, bei der eine Hormonstörung das starke Wachstum bedingt hat. Diese Krankheit mit Namen Akromegalie hat als Nebenwirkung starke Fehlsichtigkeit und Doppelbilder. Goliath sah David nur schemenhaft, sah dessen Waffe nicht und hatte so keine Chance.

David gewann, weil nicht nach den üblichen Regeln spielte.

Guerilla

Eine Erhebung zeigt, dass bei einem bewaffneten Konflikt, bei dem die eine Seite mehr als die zehnfache militärische Stärke des Gegners hat, in mehr als der Hälfte aller Fälle in den letzten paar Hundert Jahren die vermeintlich schwächere Seite überlegen war.

Die Geschichtsbücher sind voll von Aufzeichnungen, wie kleine, schlecht ausgestattete Einheiten viel größere Armeen aufrieben und zermürbten.

Malcolm Gladwell liefert zahlreiche Beispiele, in denen vermeintliche Schwäche zur Stärke wird, und vermeintliche Übermacht zum Hindernis. Wer wenig Ressource hat, nutzt das, was er vorfindet und braucht nicht viel mit sich herumzutragen. Wer wenig Technologie zur Verfügung hat, dem kann auch nicht viel kaputt gehen. Er kann unter Umständen unabhängiger und schneller agieren.

Kleine Fische im großen Teich und große Fische im kleinen Teich

Sie waren ein sehr guter Schüler. Ist es nun besser, auf eine gute Universität zu gehen, oder auf eine exzellente, herausragende Universität?

Die Frage ist die, ob wir lieber ein kleiner Fisch in einem großen Teich sein wollen oder ein großer Fisch in einem kleinen Teich. Malcolm Gladwell verbildlicht das Dilemma an einem konkreten Beispiel, und liefert entsprechende Studien dazu, die die Abbruchquoten von exzellenten Universitäten mit denen von guten Universitäten vergleicht. Diese kommen zum Schluss, dass das Risiko besteht, die eigene Karriere zu beenden, bevor sie überhaupt begonnen hat. Nicht weil diese Studierenden ungeeignet für z.B. ein MINT-Fach wären. Im Gegenteil, diese Gruppe der schlechtesten Studierenden an den Top-Universitäten hatte bessere Eingangsnoten als die besten Studierenden der nur guten Unis. Nein, sie wurde offensichtlich durch den Vergleich mit noch viel brillanteren Studenten nicht angespornt, sondern demotiviert.

Prägende Kindheitserfahrungen

Wer wünscht seinem Kind eine Leseschwäche? Wohl niemand. Warum aber ist unter erfolgreichen Unternehmern der Anteil an solchen mit Leseschwäche unverhältnismäßig groß?

Malcolm Gladwell konstruiert auch in diesem Kapitel eine faszinierende These über die Verbindung von Nachteilen in der Kindheit mit Stärken im Erwachsenenleben. Dabei mahnt er jedoch auch: nicht jedes benachteiligte Kind entwickelt daraus Stärken. Es sind mehr als nur Ausnahmen, aber eben auch nicht die Regel.

Remote Misses

Jede Katastrophe, egal ob Naturkatastrophe oder kriegsbedingt hinterlässt laut Gladwell zwei Arten von Überlebenden: zum einen die Traumatisierten, die dem Tod nur knapp entgangen sind und oft schwer verletzt wurden. Gladwell nennt diese Gruppe »Near Misses«. Und die anderen, die nicht einmal einen Kratzer davon trugen. Sie gehen in der Regel mental gestärkt aus der Krise hervor und können unter Umständen ein Gefühl der Unverwundbarkeit, mindestens aber Gelassenheit entwickeln.

Auf diese Weise führten in der Vergangenheit oft Militärschläge, die eigentlich die Moral untergraben sollten, zu einem gestärkten Selbstbewusstsein der eben nicht nahe Betroffenen. Gladwell nennt diese »Remote Misses«.

Aus einer vermeintlichen Schwäche – angegriffen werden – folgt die Stärke der Resilienz.

Und zwar nicht nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern ebenso bei Benachteiligung, Diskriminierung und schwierigen Umständen in der Kindheit.

Die Umgekehrte U-Kurve

Als wesentliches Konzept, das in »David und Goliath« immer wieder auftaucht, bringt Malcolm Gladwell die umgekehrte U-Kurve.

inverseucurve

 

Ein Mehr an einer Maßnahme führt bis zu einem gewissen Punkt zu einer Verbesserung der Situation. Noch mehr bringt zunächst keinen zusätzlichen Effekt, und ab einem bestimmten Punkt führt das Mehr zu einer Verschlechterung der Situation.

Mein Beispiel dafür ist das Salzen einer Mahlzeit. Ganz ohne Salz fehlt vielleicht Geschmack. Salzen Sie dann ein bisschen, wird es besser, bis zu einem bestimmten Punkt. Ab da ist eine Prise mehr oder weniger egal, aber drei Prisen mehr und das Gericht ist versalzen.

Aufmachung

»David und Goliath: Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen« habe ich nicht in Buchform gelesen, sondern als Hörbuch im englischen Original »David and Goliath: Underdogs, Misfits and the Art of Battling Giants« genossen (kaufen bei Audible, gibt’s auch auf deutsch). Malcolm Gladwell liest selbst. Ich mag seine Stimme und seine Art zu lesen. Er liest ruhig, dennoch akzentuiert.

Die Kapitel sind einfach durchnummeriert, mit einer Ebene an Unterkapiteln. Einfach nur Nummern, keine Titel. Ich mag das, weil es minimalistisch ist.

»David and Goliath: Underdogs, Misfits and the Art of Battling Giants« gibt es auch als Buch, ebenso wie die deutsche Übersetzung »David und Goliath: Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen«.

Für einen Eindruck der Geschichte von David und Goliath empfehle ich Ihnen, Malcolm Gladwells TED Talk anzusehen.

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Nachdenken über Stärken und Schwächen

Was sind denn nun Stärken und Schwächen? Ist nicht jede Stärke auch eine Schwäche, und kann nicht jede Schwäche auch eine Stärke sein. Malcolm Gladwell bricht eine Lanze dafür (ein unbeabsichtigtes Wortspiel mit Goliaths Primärwaffe).

Ich möchte Sie auffordern, in Ihren Annahmen aufzupassen, was vermeintlich eine Stärke und was eine Schwäche ist. Was, wenn Sie einfach einmal das Gegenteil annehmen?

Welche Fälle kommen Ihnen in den Sinn?

Ich freue mich auf Ihre Kommentare.

Photo: Joachim Schlosser, License Creative Commons Attribution Share-Alike

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