Reiterdenkmal auf Sockel, Blick von schräg unten

Lesen über Subsidiarität – Der Führerfluch: Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden von Lars Vollmer

Lars Vollmers neues Buch ist eigentlich die zweite Auflage seines vorigen: „Gebt eure Stimme nicht ab! – Warum unser Land unregierbar geworden ist“. Das selbst ist auch ein wunderbares Beispiel für die Fähigkeit, getroffene Entscheidungen revidieren zu können und ein Buch noch einmal unter einem anderen Titel herauszubringen. In der zweiten Auflage also: „Der Führerfluch: Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden

Es geht um die Vision eines neuen Zusammenlebens, weg von der voll reglementierten Gesellschaft hin zu einer mit mehr Selbstverantwortung.

Gleichsam statt gemeinsam

Das Problem, so wie es Lars Vollmer präsentiert, ist der Zwiespalt zwischen Mensch als Einzelner und Mensch als Gruppentier:

Der Mensch ist beides: Einzelner und Gruppentier. (Pos 527)

Wir sehen uns einer täglich anwachsenden Flut von Regularien und Vorgaben gegenüber. Jeder, egal ob Sie in der Funktion Arbeitnehmer tätig ist, als Eltern, als Hausbauer, als Unternehmer. Als Gesellschaft regulieren und reglementieren wir, was das Zeug hält und darüber hinaus, und viele sind doch sehr zufrieden damit, dass alles so sauber geregelt ist.

Vollmer nennt dies in „Der Führerfluch: Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ das Hirten-Prinzip: Oben herrscht einer und kümmert sich um seine Schafe, umsorgt sie, hegt sie, hütet sie. Nur dass die Schafe jetzt viel verschiedener werden als früher, weil wir mehr Information zur Verfügung haben, mehr Technologie. Gleichzeitig dient dieses Mehr an Information aber auch den Hirten dazu, immer elaboriertere Reglements aufzustellen und damit immer mehr in die individuellen Freiheiten einzugreifen.

In der Rolle der Hirten jedoch nimmt die Handlungsfreiheit zu, bzw. werden Reglements so gestrickt, dass sie sich eben punktuell mit dem richtigen Wissen und Mitteln umgehen lassen.

Der Unterschied zwischen ähnlichen Tendenzen in der Wirtschaft und in der Gesellschaft – dem Staat – ist laut Vollmer schlichtweg der, dass der Ruin eines Unternehmens zwar traurig, aber insgesamt zu verschmerzen ist, der Zusammenbruch der Gesellschaft im Staat jedoch ein nicht akzeptables Risiko für Leib und Leben aller darstellt.

Wiener Hirte.

Es liegt nicht an einzelnen Hirten-Personen, denn die allermeisten Menschen zeigen ähnliche Reflexe, wenn sie die Hirtenrolle einnehmen: Machterhalt, Stabilisierung des Hirtenprinzips.

Die meisten Reglementierungen wurden ja aus gutem Grund geschaffen, um ein jeweils evidentes Problem zu lösen. Fast immer jedoch bestehen Regelungen auch weiter, wenn das Problem längst gelöst oder anderweitig obsolet geworden ist, und meist haben Regelungen sehr große schädliche Nebenwirkungen, sei es Umweltschädigung, Marktverzerrung, unnötige Pleiten eigentlich gesunder Unternehmen, Gängelung von Personen, und natürlich auch Schlupflöcher für entsprechend vernetzte und solvente Personen.

Freilich bilden wir gemeinsam die Gesellschaft. Die Gesellschaft ist aber dennoch ein Gedankenkonstrukt, die Gesellschaft kann von selbst nichts tun, gar nichts. Das können nur einzelne Menschen.

„Gemeinsam könnten wir viel mehr schaffen, wenn wir nicht ständig an diesem »Gemeinsam« herum laborieren würden, es nicht ständig so überbetonen würden, es nicht ständig übertreiben würden mit dem Kollektivismus. Es ist wie ein Team das ständig über die gemeinsame Arbeit redet, anstatt zu arbeiten.“ (Pos 552)

Das ist wie in der Team-Führung: Meine Hauptaufgabe als Führungskraft ist, die mir anvertrauten Leute nicht vom arbeiten abzuhalten, und soweit als möglich Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Individuum vs. Sippe und die Angst

Die Sippe verspricht Sicherheit im Gegenzug für die Aufgabe einiger Freiheiten. Das ist okay. Bisweilen sehen wir das in heutigen Organisationen und Gesellschaften in ganz extremer Form.

Das Spiel mit der Sicherheit, vor Ur-Zeiten wegen tatsächlicher elementarer, lebensbedrohlicher Gefahren geschaffen, gibt es immer noch. Es hat sich verselbständigt als Angst-Mechanismus. Während der Hirte früher dazu dar war, die Angst und Verantwortung zu nehmen, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil des Hirtensystems heute, die Angst zuvor zu schüren.

Das geht hervorragend, weil den Menschen die Unsicherheit über die Zukunft immer mehr gewahr wird, und sich viele ehemalige Gewissheiten in Luft aufgelöst haben.

„Angst existiert nur dann, wenn Sie den Ausgang der Geschichte, in der Sie sich befinden, nicht kennen.“ (Pos 1550)

Die Angst ist, laut Lars Vollmer, also mit die zentrale Triebfeder des Hirtensystems. Um die Angst nehmen zu können, wird die Freiheit beschnitten. Als Maßnahmen dienen hier etwa Regeln, Gesetze, Überwachung, Formulare, Prozessbeschreibungen und Subventionen.

Beeinflussung von Verhalten

Verhaltenssteuerung ist das Ziel. Die Schafe sollen sich passend verhalten. Mit Stock und Mohrrübe. Nun sollte man meinen, dass Anreize ja eigentlich schön seien, gäben Sie doch ein Leckerli für bestimmtes Verhalten.

Das stimmt jedoch nur sehr eingeschränkt. Zum einen ist die Annahme, dass die Incentivierung einer bestimmten Aktion das System in den gewünschten Zustand bringen, deutlich unterkomplex (=dämlich), da sie unterstellt, dass es stets einen eineindeutigen Kausalzusammenhang gäbe.

Hervorragende Ideen und deren Umsetzung jedoch vermögen eine positive Veränderung des Zustands.

Wenn sich die besten Ideen in Abwesenheit von formaler Macht durchsetzen können, dann haben Gruppen von kompetenten Menschen die Chance, auch hochkomplexe Probleme zu lösen. (Pos 2337)

Der Kontext macht das Verhalten

Eine weit verbreitete Ansicht besagt, dass sich Menschen so verhielten, wie es ihrem Wesen eben inne wohne. Das stimmt nur zu einem kleinen Teil. Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann besagt:

Um sich anders zu organisieren muss niemand ein anderer Mensch werden. Niemand muss umgepolt oder gehirngewaschen werden. Am Mindset oder an der Haltung der Menschen muss nicht gearbeitet werden. Erst recht nicht als Voraussetzung für die Veränderung. Menschen verhalten sich immer dem Kontext gemäß und können sich zumeist sehr gut anpassen. Ändern Sie den Kontext, verhalten sich exakt dieselben Menschen vom einen auf den anderen Moment ganz anders. (Pos 2435)

Dieses Konzept scheint zu Beginn am freien Willen des Menschen rütteln zu wollen, doch bei näheren Nachdenken kann man erkennen, dass sich so ziemlich jeder Mensch gemäß dem Kontext verhält, in dem er oder sie sich aufhält. Menschen, die in jedem Kontext tatsächlich vollkommen frei und erratisch agieren, werden in der Regel als pathologisch psychopathisch angesehen und relativ flott in einen ziemlich restriktiven Kontext gesetzt.

„In einem betrugsanfälligen System wird es immer Betrüger geben.“ (Pos 1863)

Auch hier wird niemand von seiner individuellen Verantwortung, sich zwischen Betrüger und Ehrlichem zu entscheiden, entlastet. Doch kann es eben für Betrug förderliche Voraussetzungen geben.

Die Summe der Verhaltensmuster der Menschen in einem Kontext machen wiederum die Kultur aus. Kultur ist also etwas rein erlebtes. Das bedeutet aber auch:

Kultur können Sie genauso wenig direkt verändern, wie Sie den Schatten direkt verändern können, den ein Gegenstand wirft. (Pos 2442)

Zu wollen oder zu appellieren dass sich nun alle etwas mehr selbstverantwortlich verhalten sollen, oder dass die Hirten weniger Regeln aufstellen sollen, bringt somit nichts, weil die Kultur das eben anders vorsieht.

Die Systemtheorie unterscheidet zwischen unentscheidbaren und entscheidbaren Entscheidungsprämissen. Unentscheidbare Entscheidungsprämissen kann ich nur beobachten. Sie legen meinen Handlungsrahmen fest, ohne dass irgend jemand sie direkt verändern kann. Entscheidbare Entscheidungsprämissen sind solche, die den Handlungskontext verändern. Ein Beispiel: Ich kann die Möbel in einem Raum austauschen und anordnen, und habe damit einen mittelbaren, indirekten Einfluss auf die Art und Weise, wie die Benutzer den Raum wahrnehmen und eben benutzen. Die Wahl der Möbel ist eine entscheidbare Entscheidungsprämisse. Dass sich die Benutzer in dem Raum wohlfühlen sollen, ist eine unentscheidbare Entscheidungsprämisse, weil ich keinen direkten Einfluss darauf nehmen kann. Und auch bei den entscheidbaren Entscheidungsprämissen habe ich keine Garantie auf ein bestimmtes Ergebnis.

Inhärente Stabilität eines Systems

Das bedeutet nun aber auch, dass sich auch Hirten gemäß des Systemkontexts verhalten. Einzelne Hirten können also das System nicht verändern, denn:

Systeme haben eben diese systemimmanente Beharrungstendenz. Sie sind konservativ und vergangenheitsstabilisierend. Sie wehren sich gegen Strömungen und Bewegungen im Innern, sie leisten Widerstand. Systeme bestimmen aus sich heraus, was gut (also systemkonform) und böse (also systemkonträr) ist. (Pos 2459)

Ein Beispiel: Der Machthaber, der der Ansicht ist, seine Machtposition solle so nicht mehr bestehen, darf sie nicht einfach aufgeben, weil dann einfach nur der nächste Mensch auf der Position folgt. Die Position ist Teil des Systems und dieses erhält sich. Der Machthaber muss also seine Macht nutzen, um die systembedingte Grundlage für die Machtposition zu schleifen, dabei aber acht geben, dass seine Macht nicht schneller verschwindet als die Position.

Die französische Revolution zeigte uns wunderbar, wie das geht: Absolutistische, also willkürliche Machthaber wurden abgesetzt und geköpft, um eine bessere, gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Die Folge war, dass das Köpfen von Menschen immer willkürlicher wurde und die vermeintlichen Feinde des neuen System grausamer verfolgt wurden, als die absolutistischen Könige es je taten. Die Menschen, die ohnehin keine wirtschaftliche Sicherheit hatten, verloren auch noch jegliche politische Sicherheit. Das System absolute Macht hatte sich selbst erhalten.

Vollmers Lösungsansätze

Lars Vollmer behauptet in Führerfluch mitnichten, die Lösung zu haben, diskutiert aber einige Ansätze.

Zunächst muss das Wissen frei sein, damit zumindest jeder die Chance hat, sich zu entscheiden:

Demokratisierung des Wissens

Demokratisierung des vorhandenen Wissens, also die freie Zugänglichkeit aller verfügbaren Daten. (Pos 2490)

Dies alleine funktioniert meines Erachtens nach bislang nur so mittelprächtig, lieber Lars. Das Internet als die gigantischste Datenverteilungsmaschine brachte anfangs zwar schon mehr Freiheit in die Welt, doch sehen wir nach dreißig Jahren eben auch die Gegentendenz.

Solidarität als freiwilligen Akt

Ich hätte die Chance, echt solidarisch zu sein, wenn ich will. Und ich könnte mir aussuchen, für wen ich solidarisch sein will und für wen nicht. Wirklich schlimme Menschen hätten eine schwere Zeit. Es gäbe deutlich mehr individuelle Freiheit. Aber es gäbe auch mehr auszuhalten. (Pos 3110)

Solidarität ist nach Vollmer etwas Freiwilliges. Verordnete Solidarität ist auch wieder nur Zwang.

Keine Helden

Hören Sie auf zu glauben, dass es einen Menschen bräuchte, der alles im Griff hat. (Pos 3142)

Hören Sie auf, Menschen Schuld oder Heldenstatus zuzuschreiben. (Pos 3144)

Das ist übrigens auch der Kern meines vorigen Artikels Heldenkult, Heldenkultur und Task Forces, den ich Ihnen ans Herz lege.

Das Hirtensystem basiert darauf, dass einer Person universal mehr Wissen und Umsicht zugeschrieben wird. Dabei muss es zwangsläufig zu Übergriffigkeit kommen. Jeder kann bei sich anfangen, und anderen nicht mehr diese Macht zuschreiben, und Probleme nicht auf Personen zu projizieren.

Das Postulat

Teilhabe: Eine Verantwortungsgesellschaft ermöglicht für jeden Teilhabe, ohne dass die Einzelnen den Spielraum der individuellen Voraussetzungen, Wünsche und Möglichkeiten verlassen müssen. (Pos 3197)

Ziemlich gegen Ende postuliert Lars Vollmer die Verantwortungsgesellschaft. Etwas abstrakt, aber als positive Vision.

Schreibstil und Layout

Wie immer schreibt Lars Vollmer mit vielen Geschichten und Bildern. Das liest sich sehr gut und sorgt für Lesespaß.

Die Kindle-Fassung ist prinzipiell sauber gesetzt, weist aber viele Zeilenfehler aus, die meiner Interpretation nach aus einer mangelhaften Umsetzung einer Druckvorlage entspringen.

Auswirkung, Kritik

Ich mag Lars Vollmers Gedanken und ich mag sein Schreiben. Mit diesem Buch tat ich mir streckenweise schwer. Allein: Lars schreibt aus einer privilegierten Situation heraus, mit einem Leben als Unternehmer in Hannover und Barcelona. Nun ist mir auch klar, dass mit einem hundertprozentig ausgewogenen Buch nicht wirklich jemand hinterm Ofen hervor zu locken wäre. Wie auch in seinen sonstigen Kolumnen und Büchern spitzt er zu, nimmt hier eine extrem liberale Position ein. Das halte ich für ein gesellschaftskritisches Buch als ein durchaus probates Mittel, schließlich lässt sich durch die Regression zurück zur Mitte eine Veränderung beim Leser eben anstoßen, in dem das Pendel weit über das Ziel hinaus schwingt und dann wieder etwas zurück.

Selbst wenn wir nur einen kleinen Teil von Vollmers Visionen schaffen umzusetzen, ist etwas großes gewonnen. Und ich bin – eben in meiner Lebenssituation, mit Familie, ortsgebunden – nicht sicher, ob ich das volle Ausmaß dessen, was Lars propagiert, haben möchte.

Und ich bin der Meinung, dass der Beginn der Veränderung nicht unbedingt das Staatswesen sein muss oder auch nicht sein kann. Der Beginn liegt wahrscheinlich in kleineren Einheiten, also der Familie, oder des Unternehmens.

Darüber diskutieren

Ich gebe für „Der Führerfluch: Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden“ eine klare Leseempfehlung ab. Nicht als Ratgeber, aber auf jeden Fall als Diskussionsgrundlage und Gedankenanstoß.

Lesen Sie dieses Buch, und sprechen Sie darüber. Am besten in Verbindung mit Sascha Lobos „Realitätsschock“ (meine Rezension hier, Buch dort). Diese beiden Bücher zusammen ergeben ein Bild und reichlich Anlass zur Diskussion, wie wir als Gesellschaft weiter machen wollen. Als Gesellschaft im Großen, aber auch im Kleinen, in der Familie, in der Abteilung, in der Firma, in der Gemeinde.

Photo: Joachim Schlosser, License Creative Commons Attribution Share-Alike

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