Die Welt ist komplexer geworden. Ist sie das wirklich? Wenn ja, warum? Weil mehr Menschen mit mehr Menschen interagieren? Weil mehr Firmen mit mehr Produkten handeln? Weil wir immer mehr Daten zur Verfügung haben? Weil es mehr Schnittstellen gibt?
Ja, die Schnittstellen. Das ist das Problem. Wenn von Komplexität im Wirtschaftsleben gesprochen wird, und der Herausforderung für Manager, alles im Blick zu behalten und dabei noch Werte zu schaffen, dann ist das in der Tat ein Problem der Komplexität. Wer alles machen will, schafft nichts.
Dieter Brandes war Manager bei Aldi, dem Einzelhandelsunternehmen, das schon seit langem die Gemüter immer wieder erhitzt ‒ sei es positiv oder negativ gestimmt.
In seinem Buch »Einfach managen ‒ Komplexität vermeiden, reduzieren und beherrschen« legt er zusammen mit Sohn Nils Brandes die Managementphilosophie dar, mit der Aldi groß geworden ist. Ein Mahnmal gegen die Verzettelung im Management, und auch eine Anleitung zur Einfachheit.
Der Titel des Buches gibt die wesentlichen Schritte bereits vor: Komplexität vermeiden, reduzieren und beherrschen.
Komplexität vermeiden
Viele Führungskräfte glauben, dass die Lösung für all ihre Probleme wäre, die Komplexität besser beherrschen zu können. Das impliziert jedoch, dass diese Komplexität unvermeidbar wäre. Dem ist nicht so. Komplexität vermeiden, dass es der Anfang. Wo etwas gar nicht erst komplex wird, muss ich es nachher nicht beherrschen und dafür noch komplexere Systeme installieren.
Wo etwas gar nicht erst komplex wird, muss ich es nachher nicht beherrschen.
Tweet this
Das fängt beim eigenen Denken an und dem, was ich glaube, an Daten für meine Entscheidungen zu benötigen.
Braucht es wirklich die Marktstudie, die mit viel Aufwand bestätigt, was der gesunde Menschenverstand sagt? Braucht es aufwändige Kundenbefragungen, wo ich durch eine einfache Simulation oder einen einfachen realen Test die Antworten erhalten könnte?
Brandes/Brandes geben Fragen und Maxime zum Vermeiden von Komplexität an:
- Gibt es ein klares Ziel?
- Ist das Ziel notwendig?
- Wenn das Ziel nicht notwendig ist, ist es dann sinnvoll?
- Ist ein Verzicht auf das Projekt möglich oder sinnvoll?
(S. 128)
Die Frage nach dem klaren Ziel ist essentiell. Wenn das Ziel vage ist und zu viel Interpretation erlaubt, dann kann ich dem Team hernach nicht vorwerfen, alles beliebig zu zerreden. Klare Ziele heißt deshalb nicht, dass es kleine Mikro-Managementziele sein sollten. Auch ein großes Ziel kann klar und konkret sein.
Die Frage ist, ob das Ziel tatsächlich notwendig ist. Wie oft sind Sie an Projekten beteiligt oder vielleicht sogar der Treiber, bei denen es letztendlich egal ist, ob das Projekt gelingt oder nicht? Ist das Ziel des Projektes dann wirklich notwendig?
Mir gefällt die letzte Frage besonders gut, weil sie in unserer Zeit ungewöhnlich erscheint. Niemand stellt die Frage, ob man das Projekt nicht einfach sein lassen kann. Nicht alles, was aussieht wie ein gutes Projekt ist auch eines.
Komplexität reduzieren
Nun ist die Komplexität schon einmal da. Der nächste Schritt ist dann, diese Komplexität so weit wie möglich zu reduzieren. Reduzieren heißt nicht damit umgehen. Reduzieren heißt entfernen, einfacher machen.
Sie haben ein Projekt. Was ist der Zweck des Projektes. Wenn Sie auf diese Frage antworten mit »Wir wollen A und B und C erreichen, und nebenbei auch noch D und E verbessern«, dann haben Sie ein Problem. Das sind zu viele Ziele für ein Projekt. Es ist in Ordnung, wenn ein Projekt angenehme Nebeneffekte hat, doch Ziel kann es nur eines haben. Sie können auch nicht in Ihr Navi im Auto eingeben »Führe mich nach Hamburg und Berlin.« Das Navi kann Sie nacheinander in beide Städte führen, doch Sie müssen sich schon entscheiden, wo Sie als nächstes hin wollen. Ein Ziel.
Brandes gibt Fragen und Maximen zum Reduzieren von Komplexität an:
- Konzentration auf ein Ziel
- Verzicht auf weitere Ziele
- Verzicht auf alle denkbaren Möglichkeiten
- Verzicht auf zu viele Varianten
(S. 128)
Ein Ziel. Das klingt hart. Das ist es auch. Und ehrlich gesagt, damit tu ich mich selbst am schwersten, sowohl im Beruf als auch bei meinen Hobbys. Es funktioniert dann, wenn ich mir immer wieder bewusst mache, dass es keine zwei gleichrangigen Ziele geben kann. So sagt das übrigens auch Heiko Mell, Karriereberater und Kolumnist der VDI Nachrichten: » Ein Ziel (nur eins) wird auf Platz 1 der Liste gesetzt. Alles andere wird dem untergeordnet.«
Brandes geht weiter und fordert den Verzicht auf weitere Ziele. Dagegen rebelliert es in mir, auch wenn ich weiß, dass er Recht hat.
Der Verzicht auf alle denkbaren Möglichkeiten und viele Varianten ist möglich. Lassen Sie die goldenen Henkel am Projekt weg. Geben Sie den Projektentscheidern nicht zu viele Möglichkeiten, Details zu beeinflussen. Geben Sie sich selbst nicht zu viele Möglichkeiten.
Oder wie im Film Sweet Home Alabama passend gesagt: »Du kannst mit einem Arsch nicht auf zwei Gäulen reiten.«Tweet this
Oder musikalisch gesprochen: One Vision.
Komplexität beherrschen
Nicht nur bei Produkten lässt sich Komplexität vermeiden, sondern auch in Organisationen. Zu viele Abstimmungen, zu viel zentrale Steuerung bedingt eine sehr komplexe Steuerung. Je mehr Aufgaben dezentralisiert werden können, desto einfacher wird die Steuerung.
Das Kapitel Komplexität beherrschen ist der Weckruf für alle Mikro-Manager u.a. mit folgenden Maximen:
- Mit dezentraler Organisation
- Mit dezentraler Autonomie und Verantwortung
- Mit Vertrauen und Kontrolle
- Kontrolle mit Sanktionsmöglichkeiten
(S. 128)
Wenn ich lauter gescheite Menschen eingestellt habe, dann kann ich diesen auch vertrauen und eben Verantwortung übertragen. Klar kontrolliere ich Ergebnisse, doch lasse ich sie selbst machen. Wenn ich nicht alles selbst entscheide, dann können diejenigen, die näher an der Problemstellung dran sind, bessere Entscheidungen in ihrem Bereich treffen.
Das gilt nicht nur für untergeordnete Manager, sondern für jeden einzelnen Mitarbeiter.
Brandes gibt weitere Maxime zum Beherrschen von Komplexität an:
- Mit wenigen Regeln
- Mit klaren Regeln
(S. 128)
Klarheit und wenige Regeln stärkt die Autonomie wie oben beschrieben. Ein Fußballspiel läuft wesentlich besser ab, wenn klar ist, wo die Grenzen des Feldes sind. Nur dann können sich die Spieler darauf einstellen und brauchen nicht auch noch zwei Straßen weiter dem Ball hinterher zu rennen.
- Mit Tests ‒ Versuch und Irrtum
- Nicht alles tun, was möglich ist
(S. 128)
Was ist das minimal taugliche Projekt oder Produkt, mit dem Sie Rückmeldung erhalten können? Auf neudeutsch heißt das Minimum Viable Product. Und lassen Sie die goldenen Henkel weg, die braucht keiner.
Weitere Fragen zum Vermeiden, Reduzieren und Beherrschen von Komplexität
Warum zwei oder überhaupt Dezimalstellen?
(Brandes/Brandes)
Tweet this
- Warum zwei oder überhaupt Dezimalstellen? Warum ein Gutachten erstellen?
- Warum eine Mitarbeiterbefragung durchführen?
- Warum eine bunte Grafik zur Untermalung von Argumenten?
(S. 142)
Ja, warum das alles? In den vergangenen Monaten haben diese Fragen bei mir wunderbar funktioniert.
Wenn jemand von Ihnen einen Report fordert, fragen Sie doch mal, wozu der gut ist? Wer wird den Report lesen, und welche Entscheidungen daraus ableiten? Oft machen diese Fragen den Report ganz oder in Teilen obsolet. Auch klar ist: nur der Umstand, dass etwas obsolet ist oder Sie es als solches ansehen, nimmt noch nicht die hierarchische Notwendigkeit hinfort, den Report dennoch zu erstellen. Aber es bietet Ihnen die Möglichkeit, zumindest die Frage zu stellen, ob es nicht auch anders oder ohne ginge. Mit Fingerspitzengefühl, aber zielgerichtet in der Sache.
Ein Weckruf der Einfachheit
Das Buch »Einfach managen ‒ Komplexität vermeiden, reduzieren und beherrschen« von Brandes/Brandes stimmt die Hymne auf die Einfachheit im Management in einer Deutlichkeit und Klarheit an, wie ich es bislang noch nicht gelesen hatte. Besonders hilfreich finde ich, dass es nicht einfach (sic!) nur ein Buch über Einfachheit im Allgemeinen ist, sondern ganz konkrete Beispiele und Handlungsanweisungen gibt, wie jeder seinen Laden vereinfachen kann.
Dieter und Nils Brandes haben nicht nur dieses und weitere Bücher geschrieben, sondern betreiben auch ein Beratungshaus mit dem Namen Institut für Einfachheit.
Natürlich ist das Buch aus dem Blickwinkel eines Unternehmenslenkers geschrieben, der auf strategischer Ebene die Zügel in der Hand hält. Doch auch auf Abteilungsebene lässt sich viel machen. Da werde ich mit der Umsetzung noch eine ganze Weile beschäftigt sein.
Kritik
Das Buch ist angenehm geschrieben, der Schreibstil ist einfach (sic!), was wohl beabsichtigt ist. Das Layout ist schlicht, ohne Extras, aufwändige Aufmachung.
Für ein Buch über Einfachheit finde ich 25 Kapitel und 5 Teile zu viel, das macht das Buch wiederum komplex. Eine Gliederung in halb so viele Kapitel und nur 3 Teile hätte auch gereicht.
An einigen Stellen sind die Pferde mit den Autoren durchgegangen und Exkurse zu Themen ins Buch gelangt, die nicht wirklich dorthin gehören. Das verschenkt Platz und lässt kurzzeitig den Fokus verlieren.
Angstfrei
Früh im Buch gehen die Autoren darauf ein, dass Angst der Komplexitätstreiber Nummer 1 sei. Dem stimme ich zu. Je mehr sich Führungskräfte nach allen Seiten absichern wollen, desto mehr installieren sie komplexe Systeme zu eben dieser Sicherung.
Somit sollte Arbeiten ohne Angst das erste Ziel für Führungskräfte sein. Und oft ist das nicht ein Parameter des Unternehmens und der Unternehmensführung, sondern eines jeden einzelnen für sich.
Wer einfach arbeitet, exponiert sich, scheint verletzlich. Doch wer sich dann eben hinstellt und zu seinen Entscheidungen steht, fährt langfristig besser und glücklicher.
»Einfach managen ‒ Komplexität vermeiden, reduzieren und beherrschen« ist für mich eine klare Leseempfehlung für Führungskräfte und Fachexperten auf allen Ebenen.
Haben Sie das Buch gelesen? Welches andere Buch zum Thema Einfachheit empfehlen Sie noch?
Photo: Death to the Stockphoto, Proprietary License
Schreiben Sie einen Kommentar