Diversität und Wohlfühlen mit Informatik

»Wovon Anwender träumen.« »Weltbilder und Bilder der Informatik« Prof. Britta Schinzel spannt als Herausgeber der aktuellen Ausgabe des Informatik Spektrum, dem Organ der Gesellschaft für Informatik e.V., einen weiten Bogen. Sprachlich verliert das Heft vor lauter GenderInnen-Korrektheit leider viel Lesbarkeit, liefert jedoch inhaltlich einen guten Beitrag zur Diskussion von Informatik in der Gesellschaft.

»Bei Gebäuden zeichnet sich eine gute Architektur dadurch aus, dass Menschen sich darin wohl fühlen.«

Schreibt Dr. Simone Rehm, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Informatik e.V., und im Hauptberuf Leiterin Zentralbereich IT + Prozesse bei Trumpf (Maschinen, nicht Strumpfhosen), und fordert dasselbe für Geschäftsanwendungen.

Sie fordert, auch Geschäftsanwendungen seien so zu gestalten, dass Nicht-IT-Fachleute diese gut benutzen könnten. Ja, absolut. Vielfach sind Benutzeroberflächen wenig hilfreich und lassen Anwender darüber im Unklaren, was von ihnen nun erwartet wird. Schlechte Anordnung und Beschriftung von Schaltflächen machen es dem Gelegenheitsnutzer schwer, überhaupt zu erkennen, was zu tun ist, und bremsen den Vielnutzer unnötig aus.

Ich stimme zu: jeder, der Anwendungen entwickelt, tut gut daran, sich nicht nur intensiv Gedanken um die Benutzerschnittstelle zu machen, sondern sie auch zusammen mit Psychologen und Designern zu diskutieren und mit Endanwendern zu testen.

Gleichzeitig frage ich mich, ob Simone Rehm hier nicht zwei Dinge vermischt: Benutzeroberflächen sind das eine, Prozessabläufe aber das andere. Und hier hat dann auch Gunter Dueck recht, der Prozessempathie fordert: Bei aller Individualisierung sollten auch Anwender ein Gespür dafür entwickeln wollen, wie Prozesse ablaufen und dass diese eine Daseinsberechtigung haben. Von daher können viele Geschäftsprozesse, so wie sie derzeit strukturiert sind, eben nicht in so eine einfache Benutzeroberfläche abgebildet werden, wie man es von besseren Apps kennt.

Ebenso, wie Benutzeroberflächen bewusst einfach gestaltet werden können, so gilt dies doch auch für die Prozesse, die dahinter stehen. Vielleicht trifft dies nicht unbedingt auf die technische Realisierung zu, die viele Datenquellen, Parameter und Eingaben mit aufwendigen Algorithmen verknüpft, doch der Prozess an sich sollte wenig bis keine Schlenker enthalten.

Wie gut Anwendungen von Nicht-IT-Fachleuten, aber auch von diesen angenommen werden, hängt meinem Dafürhalten davon ab, wie der folgende Satz fortgeführt wird: »Ich benutze diese Benutzeroberfläche gerade in diesem Moment, weil…«

Was kommt dann? Kommt ein »…weil der Prozess es so will.«? Dann ist der Sinn nicht klar, und Ablehnung die mögliche Folge. Vervollständigen Sie den Satz mit »…weil ich damit mein Arbeitsergebnis meinem Kollegen in der Buchhaltung zur Verfügung stelle, so dass dieser dann die Fakturierung durchführen kann.«, dann hat das schon eine ganz andere Bedeutung.

Diversität in der Informatik

Der Großteil des aktuellen Informatik Spektrum wird bestimmt durch das Thema Diversität und Weltbilder in der Informatik. Insgesamt finde ich, dass das Heft sich damit einem wichtigen Thema gerade in Deutschland annimmt.

Leider verschenkt die Herausgeberin Prof. Britta Schinzel viel Potential und fällt selbst in Rollenklischees, die sie gerade bei der Geschlechterdiversität eigentlich doch überkommen möchte. Drei Dinge fielen mir auf, die ich für den absolut notwendigen Diskurs für nicht hilfreich halte:

1. Mangelnde Diversität der Autorenschaft 1

Von zwölf Hauptbeiträgen stammen sieben Beiträge von Prof. Schinzel und Kollegen der Uni Freiburg. Dies ist eine derartige Dominanz, dass die Frage aufkommen könnte, ob das Thema nicht auch an anderen Universitäten in Deutschland von Bedeutung wäre, und ob das dann überhaupt ein Thema in den Softwarehäusern des Landes ist. Beides möchte ich bejahen, denn unser Land hat sehr viel größeren Bedarf an Informatikern, als er nur durch »westliche weiße Männer« gedeckt werden kann.

Wollte Prof. Schinzel eigentlich eine Monographie zu dem Thema herausgeben oder warum sind nicht mehr verschiedene Autoren vertreten?

2. Mangelnde Diversität der Autorenschaft 2

Das Thema Diversität wird so lange nicht in der breiten Masse der Köpfe ankommen, so lange Artikel in den entsprechenden Fachorganen dazu fast ausschließlich von Frauen geschrieben werden. Den Grund dafür sehe ich darin, dass nicht nur bei Diversität ablehnenden Lesern, sondern auch bei gleichgültigen viel eher der Eindruck entsteht, das sei »Gedöns«, wie ein ehemaliger Bundeskanzler im ähnlichen Kontext sprach.

Positiv hervorheben möchte ich den Beitrag zum »curriculare[m] Ansatz für Mädchen«, der zwei männliche Co-Autoren hat. Weiter so, Männer!

3. Diversität als Sprachkatastrophe

Die Sprache. Nie war betont geschlechterhervorhebende Sprache so aufdringlich wie in dieser Ausgabe des Informatik Spektrum. Ich schreibe absichtlich geschlechterhervorhebende Sprache, denn von Neutralität ist nichts zu sehen. Selbst geschlechterausgleichend Sprache möchte ich hier nicht attributieren, sondern einfach nur Sprachverhunzung. Es gibt keine schlimmere Form als die Innen, mit großem I, das weder sprachlich noch grammatikalisch in der deutschen Schriftsprache etwas verloren hat.

Während der hysterische Fokus auf Inklusion der weiblichen Endung »-innen« beim Singular »Leser« noch zum falschen, aber putzigen »LeserIn« führt, das sinnhaft gelesen werden kann, ist dies beim Plural Akkusativ von »Freund« nicht mehr der Fall. Da kommt dann im Text »FreundInnen« heraus, und das ist leider nicht mehr leserlich.

Ich kann über die Ursachen dieser Sprachvergewaltigung nur mutmaßen. Eventuell kommt das aus dem Unverständnis, dass es im Deutschen zwar drei Arten von Artikeln gibt: weibliche, männliche und Neutrum, das aber den nachfolgenden Substantiven keinen Mann, keine Frau und kein Ding macht. Das Mädchen bleibt weiblich, auch wenn vorn dran ein Neutrum als Artikel steht. Der Prozess hat den männlichen Artikel, auch wenn er von Frauen durchgeführt wird. Die Funktion hat einen weiblichen Artikel, hat mit Frauen aber genauso wenig zu tun wir mit Männern. Und so ist eben der Leser auch einfach eine Person, die ein Buch oder einen Text liest.

Vielleicht möchte ich darüber mal einen eigenen Artikel schreiben…

Diversität oder Diversity – so früh wie möglich fördern

Was ist eigentlich so schlecht am deutschen Begriff Diversität? Warum muss es Diversity heißen? Wo ist der konzeptuelle Unterschied?

Was ich mich in Anlehnung an meinen vorigen Post zum Thema Angst vor Mathematik in der Schule als Frage umtreibt: Wenn nach den Ideen der Autoren im Informatik Spektrum es tatsächlich funktioniert, das Selbstbild von Informatikern an den Universitäten umzuformen, wird das dann so in die Schulen hinein wirken, dass sich tatsächlich auch vermehrt Mädchen für das Fach Informatik interessieren, oder muss die Veränderung in der Schule stattfinden?

Die Autoren sprechen ja an, dass es durchaus Lehrer an Schulen gibt, die dem Engagement von Mädchen in der Informatik ablehnend, zumindest aber skeptisch gegenüber stehen. Was können wir dort drehen? Sind solche Lehrer einfach selbst in der Weise sozialisiert, oder sind sie einfach nur unsicher, wie sie auf die unterschiedlichen Denkweisen der Schüler eingehen sollen? Die Ausrichtung auf die »rechte und linke Gehirnhälfte«, die zwar gleichermaßen bei Jungen und Mädchen vorkommen, weisen aber offensichtlich eine gewisse Häufung nach Geschlecht und sind deswegen schon aus Gründen der Geschlechterdiversität zu berücksichtigen, aber auch, weil wir Informatiker mit unterschiedlichen Denkmodellen brauchen. Zu vielfältig ist die Informatik, als dass wir die Aufgaben der Zukunft mit uniformen Spezialisten zu lösen vermögen.

Brauchen wir mehr junge Frauen in der Informatik und Ingenieurwesen? Aber sicher! Brauchen wir mehr junge Männer als Grundschullehrer und Kindergärtner? Aber sicher! Das geht doch alles schon in der Schule los und im Elternhaus genauso wie im Freundeskreis.

Diversität mal ganz praktisch

Diversität bringt neben bisweilen aufwendigerer Kommunikation eben große Vorteile: In meiner Gruppe bei MathWorks, die gleiche Funktionsträger in fünf Ländern Europas vereint, arbeiten promovierte verschiedener Fachrichtungen mit Herkunftsländern, die bei der Hälfte der Gruppe nicht in den Ländern liegt, in denen sie arbeiten. Dies trifft auch auf die bis kommenden Herbst einzige Dame im Team zu. So habe ich auch schon aktiv nach einem weiteren weiblichen Ingenieur für die Gruppe gesucht, aber in Deutschland aus der Gruppe der Damen leider nur Bewerbungen von Mathematikern bekommen. Ist Mathematik also reizvoller für Mädchen als Ingenieurwesen? Oder sind die Damen, die sich dann für Ingenieurwesen entscheiden, wiederum weniger der eher kommunikativen Ausrichtung der bei mir in der Gruppe offenen Stelle zugeneigt?

Wie dem auch sei: Ich habe nie zuvor einen so bunten Laden führen dürfen, in dem ich, als Mann, der im selben Bundesland arbeitet, in dem er aufgewachsen ist, schon beinahe ein Exot bin. Was aber nichts macht, weil wiederum Diversität ja weder Selbstzweck noch Zwang ist. Somit ist mein Dasein in dieser Gruppe selbst schon wieder ein Beitrag zur Diversität. Und das macht Spaß.

Teilen & Verweilen

Kommentare

2 Antworten zu „Diversität und Wohlfühlen mit Informatik“

  1. Avatar von Michael M. Richter
    Michael M. Richter

    Guten Tag!
    Vielen Dank für die vielen interessanten Kommentare. Ich habe das Weltbilderprojekt im letzten Jahr inhaltlich geleitet und dann den unten stehenden Artikel im Informatikspektrum eingereicht. Dieser wurde aber abgelehnt.
    Weil ich sonst aber viele positive Rückmeldungen bekommen habe schicke ich ihn her mal.
    Viele Grüße Michael Richter

    Die Arbeit:
    Unterschiede zwischen Weltbildern von Studierenden der Informatik in Kanada und Deutschland

    Michael M. Richter
    Abstract:
    In the project „ World views in Computer Science “ essential world views of German students were investigated in a qualitative way. We did it in a very comprehensive manner. However, the results were restricted to German students. In the present short article we follow up by studying how the German views coincide with and differ from those in Canada.
    The author was teaching for many years at the University of Calgary, as well as at the University of Texas. While Calgary is of course not representative for Canada at large, it is typical for this country in various respects and in addition for several aspects across North America.

    Abstrakt:
    In dem Projekt “Weltbilder in der Informatik” haben wir Aufschluss über Weltsichten von Informatikstudierenden erhalten. Dies geschah aufgrund zahlreicher qualitativ ausgewerteter Befragungen. Weil die Befragten deutsche Studierende sind ergibt sich die Frage, inwieweit sich die Beobachtungen auf andere Länder übertragen lassen. Wir geben hier einen kurzen Überblick über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Kanada. Die Basis ist mehrjährige Lehrerfahrung des Autors an der University of Calgary und der University of Texas.
    1 Einführung

    Diese Arbeit bezieht sich auf den Abschlussbericht „Weltbilder der Informatik“ (siehe Anhang in diesem Heft), insbesondere auf die darin gestellten Fragen.
    Weltbilder sind komplex und haben sehr unterschiedliche Ursachen. Sie werden nicht nur aktuell geformt sondern auch vielfach vererbt. Diese Quellen sind sehr unterschiedlich.
    Untersucht man solche Ursachen, wie im Projekt „Weltbilder der Informatik“ für Informatikstudierende in Deutschland geschehen, so ist es von Interesse zu erfahren, welche Bilder von sehr allgemeinem Charakter sind und welche je nach Kontext variieren. Diesem wollen wir hier nachgehen.
    Dazu stütze ich mich auf meine eigenen Beobachtungen. Eine Beobachtung ist jedoch etwas anderes als eine Analyse wie sie im o.g. Projekt vorgenommen wurde, sie wurden von mir nicht systematisch gesammelt. Beobachtungen über eine lange Zeit hinweg hinterlassen jedoch Eindrücke auf die wir hier zurückgreifen wollen. Es wird betont, dass hier keinerlei Werturteile gefällt oder auch nur angemahnt werden. Jeder kann sich heraussuchen was gefällt. Ich selbst habe von diesen Beobachtungen jedoch einiges gelernt und würde mich über weitere Diskussionen freuen.
    Wesentliche Quellen von Weltbildern sind Kulturkreise, und dies wirkt sich auch auf Studienfächer aus. Deshalb lassen sich Erfahrungen der Informatik aus dem deutschen Bereich nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragen. Das weiß jeder in der Informatik, sofern Erfahrungen in Projekten mit Partnern aus anderen Kulturkreisen vorliegen. Solche Erfahrungen begrenzen sich jedoch auf den Umgang mit speziellen Partnern und sie liefern nur eingeschränkt ein tieferes Verständnis. Gleichwohl ist es von Nutzen.
    Es ist auch interessant zu sehen, dass Diversitäten bereits im westlichen Kulturkreis zu beobachten sind. Sie drücken sich auf unterschiedliche Weisen aus. Hier beschränken wir uns auf die Universität von Calgary. Sie hat wie jede Universität ihre Eigenheiten, ist jedoch für Westkanada ziemlich charakteristisch und in mancher Hinsicht auch für ganz Nordamerika. In dieser Hinsicht war es hilfreich, Vergleiche mit der Universität Austin/Texas anstellen zu können.
    2 Beobachtungen und Eindrücke

    Eine Analyse der Weltbilder erfordert umfangreiche Untersuchungen wie das im Projekt „Weltbilder der Informatik“ geschehen ist, die man nur mit großem Aufwand wiederholen kann. Die Weltbilder haben jedoch Konsequenzen, die Beobachtungen zugänglich sind welche man auch an anderen Orten vornehmen kann. Langjährige Beobachtungen verdichten sich im Laufe von Jahren zu Eindrücken. Solche Eindrücke sind subjektiv und nicht eine Folge von wissenschaftlichen Untersuchungen. Unter anderem finden sie bei Dozenten mit mehreren Jahren Erfahrung in einem Gebiet statt. Diese Eindrücke kann man dann mit den Konsequenzen und Ergebnissen eines Projektes vergleichen. Dabei kann es sein, dass diese Konsequenzen die Eindrücke bestätigen oder ihnen widersprechen.
    Der Autor hat eine langjährige Erfahrung als Dozent im Computer Science Department der Universitäten Calgary und Austin/Texas. Das letztere ist insofern von Interesse als etliche Phänomene ganz allgemein nordamerikanisch sind und nicht nur speziell kanadisch.
    Im Laufe der Jahre haben sich dann durch wiederholt denen man und eben auch ich gezielt nachgehen konnte und die teilweise sogar nachprüfbar sind. Durch stetig auftretende Eindrücke konnten Vorstellungen über Studierende verfestigt waren. Es soll aber angemerkt werden, dass meine Erfahrungen sich hauptsächlich auf ältere Semester beziehen und auch in Bezug auf Schulen habe ich nicht viele Erfahrungen.

    3 Das kanadische Umfeld

    Wir betrachten hier nicht ganz Kanada, sondern im Wesentlichen die Universität von Calgary, lassen aber einige Eindrücke von der der Universität von McGill, Montreal und New Brunswick sowie auch von der Universität Austin/Texas einfließen (denn manches ist nicht speziell kanadisch sondern allgemein nordamerikanisch) .
    Ein erster kultureller Unterschied zu Deutschland ist, dass Kanada zweisprachig ist. Das spielt im Westen keine direkte Rolle, aber sehr wohl in den östlichen Provinzen. Aber auch im Westen hat man das Bewusstsein, ein zweisprachiges Land zu sein.
    Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, das Kanada ein Einwanderungsland ist. Vergrößert man den Vergangenheitshorizont nur ein wenig, sind, abgesehen von den Ureinwohnern die meisten Kanadier Einwanderer. Es ist noch nicht so lange her, dass die Bewohner sich mit widrigen Umständen, besonders klimatischer Art auseinandersetzen und sich gegenseitig helfen mussten.
    Es muss aber davor gewarnt werden, Kanada als einen Vielvölkerstaat zu betrachten. Trotz der unterschiedlichen Herkunft und der Bewahrung vieler kultureller Eigenheiten gibt es so etwas wie eine kanadische Identität, das heißt, man bewahrt seine kulturelle Eigenart, fühlt sich aber trotzdem als Kanadier. Was man nicht machen darf, ist jeweils andere Gruppen anzugreifen.
    Gewisse Unterschiede bestehen zwischen West- und Ostkanada. Das kommt einmal von dem französischen Einfluss im Osten her, aber auch von der längeren Historie. In Bezug auf die Informatik habe ich aber solche Unterschiede nicht bemerkt.
    Die Eigenständigkeit ist mit einer gewissen Distanzierung sowohl von Europa wie auch von den USA verbunden. Bezüglich der Ökonomie fühlt man sich weniger sozialistisch als in Europa und weniger kapitalistisch als in den USA.
    In Bezug auf Gesamtkanada gibt es die spezielle Gruppe der Aboriginal People (First Nations) Diese haben in Europa keine Entsprechung. Sie haben ganz eigene Probleme, die hier nicht diskutiert werden sollen, und sie sich auch nicht speziell auf die Informatik.

    4 Erste Aspekte
    4.1 Was ist Informatik?
    Das Department of Computer Science in Calgary sieht seine Hauptaufgabe in den Augen der Studierenden und nach eigenem Bekunden darin, die Studierenden auf das Leben in der modernen industriellen Welt vorzubereiten. Dazu gehört eine theoretische Fundierung ebenso wie Kenntnisse einzelner Teilgebiete (z.B. Programmierung, Hardware, Netze, Tools und der Umgang mit Benutzern).
    Im Projekt haben wir zwei Schwerpunkte ausgemacht. Zum einen ist Informatik stark mit dem Gerät (Computer) oder mit der Tätigkeit des Programmierens verbunden. Dies Informatikbild wurde im weiteren Studium um andere Aspekte ergänzt. Dazu gehört die Sicht der Information als Gegenstand der Informatik, was dann auch zur Frage der Kommunikation führt. Das finden wir prinzipiell auch hier wieder.
    Natürlich ist Programmieren auch in Calgary ein zentraler Bestandteil der Informatik. Nur fragt es sich, was dies eigentlich ist. Die Antwort, es sei das Kodieren einer vorgelegten Spezifikation greift zu eng. Programmieren wird vielmehr, gerade auch von den Studierenden, als eine umfassende Tätigkeit aufgefasst die alles beinhaltet was zu einem akzeptablen Programm führt. Das beinhaltet eine Diversität. Das spiegelt sich in der großen Breite des Softwareengineering wider.
    Im Projekt haben wir verschiedene Typen von Studierenden ausgemacht. Nach meiner Erfahrung bilden die in der Projektuntersuchung die „Vielschichtigen“ genannten den häufigsten Typ. Die vielschichtigen Sichten werden auch in der Lehre kultiviert. Vielschichtig bedeutet für die Studierenden aber, sich auch mit formalen Aspekten der Informatik auseinander zu setzen.
    Insgesamt habe ich aber am meisten verbreitet die Meinung gefunden: Informatik ist Problemlösen. Dazu gehört zentral der Aspekt dass Informatik Spaß macht.
    4.2 Zu welchem Zweck betreibt man Informatik?
    Die Frage was Informatik eigentlich ist kann man nicht von der Frage trennen, wozu man sie betreibt. Hier besteht eine relativ einheitliche Sicht in Nordamerika, die sich von der deutschen sehr wohl unterscheidet. In Deutschland studiert man die Wissenschaft Informatik und muss sich deren Kriterien beugen. Zu dem Zwecke hat man sich mit etwas heterogenen Techniken auseinander zu setzen, die von den beiden Elternteilen der Informatik, nämlich der Mathematik und der Elektrotechnik, ererbt wurden.
    In Nordamerika allgemein steht von Anfang der menschliche Benutzer im Mittelpunkt der Aktivitäten. Die genannten wissenschaftlichen Aspekte kommen hier natürlich genauso vor, aber in gewissem Sinne sind sie eher Mittel zum Zweck. Im Studium äußert sich das dadurch, dass HCI im Curriculum. In diesbezüglichen Kursen lernt man nicht nur reine Informatiktechniken sondern auch die Psychologie spielt eine Rolle. Eine gute Übersicht findet man in [Maus].
    Diese Aspekte hängen sehr wesentlich mit der Frage zusammen: Wer beurteilt die Qualität der entwickelten Software und wonach? Die deutschen Studierenden meinen meist, dass sie und ihre Dozenten das tun. Das beruht darauf, dass die Kriterien Korrektheit und Effizienz sind; dies sollte man daher tunlichst auch im Studium behandeln (was ja dann auch der Fall ist). In Nordamerika fragt man meistens: Sind die Kunden zufrieden, können sie damit umgehen und werden ihre Wünsche erfüllt?
    Selbstverständlich spielt Korrektheit eine große Rolle. Darüber hinaus ist aber auch Robustheit und mögliche Wiederverwendung in ähnlichen Situationen von Bedeutung. Auch ist man sich bewusst, dass es auf dasselbe herausläuft, ob ein Programmierfehler der Grund für Inkorrektheit ist, oder ob Benutzer einen Eingabefehler gemacht haben, weil sie das Ganze nicht recht verstanden haben. Dies erfordert wiederum ein intensives Einfühlungsvermögen in den Benutzer. Hierzu werden nicht nur werden nicht nur graphische Techniken und Implementierungstechniken gelehrt. Wichtig sind vielmehr auch Fragen des Designs und deren Verständnis, Modelle des menschlichen Verhaltens und Einbeziehung des Benutzers in die Designentwicklung. Auch bei den technologisch orientierten Studierenden interessiert man sich für das persönliche Fehlverhalten von Benutzern, nur versucht man es zu systematisieren und ihm durch spezielle Methoden zu begegnen. Das ist alles recht aufwändig und wird sowohl im ersten wie im zweiten Studienabschnitt gelehrt. Es prägt die Vorstellung der Studierenden ganz wesentlich.
    Im Projekt haben wir weiter verschiedene Typen von Studierenden ausgemacht. Diese scheinen nach meiner Sicht in Calgary keine signifikanten Gruppen zu bilden, weil jede etwas von allem hat.

    5 Gruppenbildungen
    Hier erhebt sich die Frage, inwieweit verschiedene Bevölkerungsgruppen sich im Verhalten und Sichten der Studierenden widerspiegeln. Das bedeutet auch: Welche Studierenden machen welche Tätigkeiten gemeinsam? Das hängt bei den Studierenden stark von der Art der Tätigkeit ab. Hier kann man zwei grobe Klassen unterscheiden. Die eine betrifft Tätigkeiten privater Art, wozu private Dinge wie Freundschaften, aber auch das Kaffeetrinken in der Uni gehören. Hier kann man große Abhängigkeiten von der Herkunft beobachten: Chinesische Studierende gehen mit Chinesen zum Essen und indische mit Indern.
    Das ist aber anders in Bezug auf das Fachliche. Hier interessiert man sich vornehmlich an Arbeitsgruppen, die bestimmte Themen kultivieren.
    Vor allem im Graduate Studium werden Gruppenbildungen auch durch die Lehre gefördert. Es ist üblich, dass die Studierenden in den Kursen ein Projekt machen. Die Themen werden oft vom Dozierenden nahe gelegt, beinhalten aber stets ein Element der Freiheit. Wegen des Umfanges der Projekte werden die Projekte oft von mehreren Studierenden bearbeitet. Die Gruppen finden sich selbst. Nach meiner Erfahrung waren die meisten Gruppen sowohl weiblich-männlich wie auch der Herkunft nach gemischt.
    6 Genderfragen
    In Deutschland haben die meisten Universitäten ein Genderinstitut oder ein Genderzentrum. Dies ist ja auch in Nordamerika der Fall. An der Universität von Calgary existiert ein relativ großes Institut für Genderfragen. Hier wurde unser Projekt als durchaus interessant eingestuft. Man hat es jedoch in Bezug auf die heimische Universität als nicht so gravierend betrachtet. Die Haupttätigkeit richtet sich vielmehr auf Frauenfragen globaler Art oder in Entwicklungsländern, z.B. in Lateinamerika. Dazu kommen dann allgemeine Gesundheitsfragen und dergleichen. Dazu werden nicht nur Kurse sondern auch Kongresse veranstaltet und man begibt sich auf Veranstaltungen. Typische Themen sind z.B.
    – Government Acts on Commitment to Improve the Lives of Aboriginal Women
    – Ministers Responsible for Status of Women Address Economic Security, Health and Pursue Measures to Reduce Violence Against Aboriginal Women
    – Gender, Culture and Religion: Tackling Some Difficult Questions
    – Inclusions, Exclusions, and Seclusions: Living in a Globalized World
    Diese Richtung hat eine wesentliche Ursache darin, dass Genderfragen in Kanada ganz anders betrachtet werden als in Deutschland. Gesetzlich darf niemand aufgrund des Geschlechtes, der Herkunft und Religion oder des Alters benachteiligt werden. Das wird aber nicht als unangenehmer Zwang betrachtet, sondern als etwas ganz Normales. Eine Ausnahme spielen freilich immer noch die Ureinwohner. Dies wollen wir hier aber, wie gesagt, nicht genauer betrachten.
    Für das Department Computer Science spielen dementsprechend Genderfragen in unserem Sinne eine geringe Rolle. Es gibt eine ganze Reihe weiblicher Informatikprofessoren, aber niemand kommt auf die Idee diese zu zählen. Mit dem Begriff der Gleichstellungsbeauftragten in Berufungskommissionen konnte niemand etwas anfangen. In Deutschland gibt es auch keine Gesetze oder Regelungen, die den Zugang von Frauen zu Professorenstellen irgendwie einschränken. Die Studierenden interessieren sich dementsprechend auch weniger für Genderprobleme.
    Wenn ich die Namensliste der Studenten für meine Vorlesung erhalte, kann ich meist nicht sehen, welches Männer oder welches Frauen sind. Das liegt wesentlich an der unterschiedlichen Herkunft. Aber selbst Chinesen können chinesische Vornamen oft nicht deuten. So habe ich einmal eine Gruppe von chinesischen Studenten gefragt: Ist Wenfa Li ein Mann oder eine Frau? Die Antwort war: Es ist ein Mann, jedenfalls zu 80%! Es ging hier um eine Bewerbung für eine Postdoc Stelle, und da wurde meine Frage auch als unwichtig betrachtet.
    In meinen Vorlesungen waren meist mehr Männer als Frauen, aber nicht viel mehr und auch nicht immer. In der Qualität ihrer Arbeit konnte ich keinen Unterschied entdecken und auch nicht in ihren Vorlieben. Die Breite der angebotenen Themen hat für jeden etwas. In der angesprochenen Gruppenarbeit spielen Genderfragen keine Rolle. Das betrifft sowohl die Wahl der Teilaufgaben wie auch etwaige Führungsrollen.
    An der Universität von Austin ist die Lage etwas ähnlicher zur deutschen. So wird festgestellt, dass Frauen in verschiedenen Berufssparten noch unterrepräsentiert sind. Es werden hier auch etliche Programme für Frauen angeboten. Das Center for Women’s and Gender Studies sieht eine wesentliche Aufgabe darin, die Lücke zwischen Männern und Frauen bei Führungskräften zu schließen. Das fängt bereits in den Anfangssemestern an.
    Nun ist diese Situation auch nicht für ganz USA charakteristisch, ich vermute eher für die Südstaaten. Jedenfalls ist hier ein deutlicher Unterschied zur Mentalität in Kanada festzustellen.
    7 Studienmotivation
    Hier ergeben sich zwei Aufgaben:
    1) Die Motivation in Erfahrung zu bringen.
    2) Über die Reaktionen der Universitäten zu berichten.
    Punkt 1) wurde im Projekt ausführlich behandelt, Punkt 2) kaum, sie betreffen ja auch weniger die Sicht der Studierenden. Den letzteren haben wir deshalb im Projekt auch nicht untersucht. .
    In Calgary betrachteten wir auch zunächst den ersten Punkt und den zweiten im nächsten Abschnitt mehr aus der Sicht der Universität.
    Die Motivationsfrage hängt eng damit zusammen zu welchem Zwecke man Informatik studiert und was man vermutlich später im Beruf zu erwarten hat. Beim letzteren spielen, wie überall, die wirtschaftlichen Erwartungen eine Rolle. Da sie aber in zur Informatik vergleichbaren Studienfächern ziemlich ähnlich sind, sind sie kaum ein entscheidender Faktor. Über die Verhältnisse in Schulen und Familien kann ich nur sagen dass Computer genauso wie Autos als normale Gebrauchsgegenstände aufgefasst werden.
    Interessant ist jedoch, mit welchen Argumenten die Universitäten die Schüler zum Informatikstudium zu überreden versuchen, d.h. welches Weltbild der Studierenden sie voraussetzen. Generell wird betont, dass wir es in der modernen Welt mit Maschinen und Menschen zu tun haben, und der Umgang mit beiden will gelernt sein. Dies wird als weitgefasste Motivation vorgebracht, die sich nicht auf technische Aspekte beschränkt. In Austin/Texas ist die Perspektive ähnlich. Sie wird formuliert als: Da nun Computer überall sind, benötigt die Computerwelt Personen mit einer großen Vielfalt von Hintergrundwissen und Leidenschaften. Aus dieser Sicht kann man die Eingangsfrage so beantworten: Informatik ist etwas Herausforderndes das zum modernen Leben passt und sehr viel Spaß macht. Nach meiner Erfahrungen teilen die Studierenden diese Ansichten.

    8 Lehre und Curriculum
    Im letzten Abschnitt wurden bereits generelle Antworten zur Frage der Studierendenmotivation gegeben. Die nächste Frage ist dann, wie sich das konkret äußert.
    Die Lehre an einer Universität soll oder sollte die wichtigsten Aspekte, vor allem für die Zukunft, reflektieren und die Motivationen der Studierenden berücksichtigen. Diese Reaktion äußert sich im Curriculum, der Breite des Angebotes und der Ausgestaltung der Vorlesungen, Übungen und Praktika. Dabei werden Anfänger und Fortgeschrittene unterschieden. Insgesamt spiegelt dies die zweite Motivation in diesem Zusammenhang wieder, nämlich die der Universität für ihre Aktionen.
    Das vorgelegte Angebot hat zwei eng verwandte Zielsetzungen:
    1) Den Studierenden eine Ausbildung zukommen zu lassen, die ein Erfolgreiches Berufsleben ermöglicht.
    2) Zukünftige Studierende dazu zu bewegen, gerade an dieser Universität das Studium aufzunehmen. Hierzu muss man die Weltbilder der Studierenden kennen.
    Letztlich ist man also daran interessiert, Studierende an die Universität zu bringen oder dort zu halten. In Relation zu Deutschland ergeben sich Unterschiede von denen drei wichtige sind:
    a) Es geht nicht so sehr darum, einen landesweiten Fachkräftemangel zu beheben.
    b) Studierende zahlen Gebühren, die für die Universität lebenswichtig sind.
    c) Zulauf von Studierenden erhöht das Ansehen der Universität und führt zu einem zusätzlichen Engagement von Sponsoren. Sponsoren sind von Drittmittelgebern zu unterscheiden. Sie bringen Geld, aber nicht für bestimmte Resultate sondern für erwünschte Forschungsergebnisse.
    Die konkrete Realisierung orientiert sich an der oben angegebenen Beschreibung was Informatik eigentlich und wozu man sie betreibt. Die in Deutschland üblichen Anfängervorlesungen findet man klarerweise auch in Kanada und in den USA und es sind da keine gravierenden Unterschiede festzustellen. Nur hat man in Calgary auch für Undergraduates bereits HCI Vorlesungen.
    Im Studienabschnitt für Graduates ändert sich dies jedoch. Es wird Wert auf Projekte, Selbständigkeit und Interdisziplinarität gelegt. Ich habe oft die Meinung gehört dass die Informatik langfristig nur überleben wird wenn sie sich interdisziplinär engagiert. In Deutschland glauben manche Fakultäten „das bisschen Programmieren können wir auch“ und „Informatik wird nur in Form von technischen Hilfsdiensten benötigt“, also wenn man z.B. nicht weiß wie eine Datenbank zu reparieren ist. Studierende können in Kanada auch mit dem Begriff „reine Informatik“ meist nicht viel anfangen. Man orientiert sich vielmehr an Ausdrücken wie theoretische Informatik, Softwareentwicklung, Hardware etc.
    Interdisziplinäre Projekte fördern auch die Fähigkeiten zur Kommunikation, was meiner Erfahrung nach von Studierenden sehr begrüßt wird.
    Die Frage des Teamworks wurde bereits oben bei den Gruppenbildungen angesprochen. Dies wird auch als eine Vorbereitung auf den späteren Beruf angesehen, wo Teamwork meist ein zentrales Element ist. Dabei wird auch die Kreativität der Studierenden angesprochen. In meinen Kursen haben die Studierenden hier eine wesentliche Motivation für den Besuch des Kurses angesehen. Dazu war es auch förderlich, wenn am Ende eine Publikation herauskam.

    9 Abschlussbetrachtungen
    Es schien wenig Sinn zu machen, hier einfach beobachtete faktische Unterschiede aufzuzählen. Es sollte wenigstens versucht werden, Hintergründe aufzuzeigen. Das ist insofern schwierig, als manches zufällig ist und vieles auf unterschiedlicher Mentalität beruht. Deshalb habe ich zwar Fakten mitgeteilt, aber meist in Form von Eindrücken aufgrund langjähriger Beobachtungen und der Beschäftigung mit Studierenden. Das Vermitteln von Mentalitäten ist generell sehr schwierig, besonders dann, wenn man sie nicht selbst erlebt hat.
    Die gemachten Beobachtungen und die daraus resultierenden Eindrücke wiesen etliche Unterschiede zwischen Studierenden in Deutschland und Kanada auf. Ganz wichtige waren:
    – Kanadische Studierende betrachten Informatik als einen zentralen, kundenorientierten Beitrag zum modernen Leben während man in Deutschland Informatik eher als einen rein wissenschaftlichen Beitrag sieht.
    – Studierende bezahlen in Kanada Gebühren. Dies wird aber allgemein als eine Investition und nicht als eine soziale Diskriminierung empfunden. Allerdings funktioniert dies nur bei einem effizienten Stipendiensystem, was in Calgary gegeben ist.
    – Frauen sind eher gleichberechtigt und die Genderforschung hat eine etwas andere Richtung.
    Der Autor bedankt sich bei allen Mitgliedern des Weltbildprojektes für ihre grundlegende Arbeit. Ein spezieller Dank geht an Harold Boley für nützliche Hinweise.
    Referenzen
    [saul] http://www.cpsc.ucalgary.ca/~saul/
    [Weltbilderprojekt] Abschlussbericht des DFG- Projektes Weltbilder in der Informatik: Inklusions-/Exklusionsmechanismen im Informatikstudium.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert