Ist das Hauptproblem an Universitäten und Hochschulen tatsächlich der Digitale Wandel? Und sind alle Fachbereiche gleichermaßen betroffen? Das Geflecht aus Problemen verlangt nach einer differenzierten Betrachtung.
Sebastian Haselbeck hat auf Netzpiloten einen Artikel veröffentlicht, in dem er sich über die mangelnde Offenheit von Universitäten und Hochschulen gegenüber Digitalisierung beklagt.
Das Problem dieses an und für sich wichtigen und aufrüttelnden Beitrags zeigt sich leider bereits im ersten Satz: »Ob BWL, Jura, Politikwissenschaft oder Lehramt, nur ein winziger Bruchteil der Akademiker dieses Landes ist nach dem Studium fit für die digitale Welt.«
Das Problem ist – und Haselbeck stellt sich leider auf die Seite des Problems, nicht der Lösung – dass MINT-Fächer ignoriert werden. Akademiker gibt es eben auch in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik, mit Maschinenbau, Elektrotechnik und anderen Ingenieursdisziplinen und Physik.
Alle Fächer über einen Kamm zu scheren erscheint verfehlt. Der digitale Wandel bedarf differenzierten Denkens.
Algorithmisches Denken
Dank meiner Arbeit habe ich die Gelegenheit, Einblicke in die universitäre Bildung in Europa und darüber hinaus zu erhalten, und ein Stück weit auch mitzuhelfen. Gewiss, über Politikwissenschaften und Jura möchte ich mir kein Urteil erlauben.
Doch schon bei BWL und Lehramt können wir Veränderungen zum Guten sehen. Und ich spreche hier nicht davon, ob Lehramtsstudenten schon mal eine digitale Tafel benutzt haben oder einen Beamer anschließen können.
Wir sehen BWL-Studiengänge, die nicht nur überhaupt Software einsetzen, sondern die auch numerische Programmierung lernen, und programmatische Statistik sowie Methoden der numerischen Optimierung einüben. Sind doch Portfolioanalyse und Risikobewertung in der Hauptsache rechnerische Vorgänge. Algorithmisches Denken ist gefragt:
Wer eine Aufgabenstellung zu modellieren versteht, kann sie vom Computer lösen lassen.
Ich sehe viele Studiengänge in BWL, in Finanzwissenschaften und im Lehramt, die ihre Lehre umstellen und nun beispielsweise MATLAB-Kenntnisse vermitteln. In den Naturwissenschaften und Ingenieurwesen geschieht dies in noch viel größerem Umfang. Eine wesentliche Fähigkeit aller Disziplinen ist heute, ein Problem in computerlesbarer Form niederschreiben zu können. Wer die Aufgabenstellung zu modellieren versteht, wer einen Algorithmus hinschreiben kann, der kann sie vom Computer lösen lassen.
Algorithmisches Denken ist denn auch der Aspekt, der mir in meiner Arbeit täglich begegnet. Bei oberflächlicher Betrachtung ist die Fähigkeit, Algorithmen zu entwickeln, den technischen Fachbereichen vorbehalten, also der Informatik, der Elektrotechnik, dem Maschinenbau. Doch es lohnt sich, weiter zu blicken. In der Biologie werden Absorptionsprozesse im Organismus modelliert. In den Finanzwissenschaften werden Handelsstrategien codifiziert. Doch auch in scheinbar analogen Disziplinen sind Algorithmen angekommen: Jeder, der Statistik einsetzt, darf heutzutage Hypothesen mittels Algorithmen prüfen. In Sprachwissenschaften erlaubt Machine Learning neue Erkenntnisse.
Die Algorithmen sind da. Und da stimme ich mit Haselbeck überein: Den Knall haben noch nicht alle im akademischen Betrieb gehört. Auch nicht in der Industrie, nebenbei bemerkt.
Projektarbeit
Projektbasiertes Lernen. Image Courtesy MathWorks
Ingenieurstudiengänge und Naturwissenschaften werden allerorten gerade umgestrickt, indem sie Elemente der Projektarbeit einflechten. Egal ob in der reinen Form des Projektbasierten Lernens oder zumindest des Problemorientierten Lernens, sicher ist: Mathematiker, Informatiker, Physiker, Ingenieure aller Couleur studieren zunehmend in Teams.
Das spaßige und erschütternde daran ist: Oft genug bekommen wir von Lehrschaffenden die Rückmeldung, dass es oftmals sogar die Studenten selbst sind, die neuere Lehrformen ablehnen. In einem interaktiven Seminar, oder in einer Projektarbeit in Kleingruppen kann sich eben niemand mehr verstecken, rausreden, oder erst zwei Tage vor der Klausur anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Projektbasiertes Lernen ist anstrengend! Man muss als Student nicht nur am Ball bleiben, sondern den Ball selbst voran treiben. Der Lernerfolg stellt sich nur durch eigene Arbeit ein, und das mögen viele Studenten gar nicht. Diejenigen, die Eigeninitiative haben und zeigen, lieben projektbasiertes Lernen.
Selbstverantwortung
Ich halte es für falsch, den Universitäten und der Politik die Alleinverantwortung für den Studienerfolg zuschieben zu wollen. Man wird nicht studiert, sondern man studiert! Studieren ist ein Verb, ein Tunwort. Auch nach Bologna ist der aktive Part der Student.
Viele Änderungen im Curriculum von Universitäten werden durch wache Professoren selbst initiiert, oder durch Dekane, die beide gute Verbindungen zur Industrie haben. Die Lehrschaffenden wollen auch an Universitäten eine praxisnahe Bildung ermöglichen. An Hochschulen ist der Fokus auf praxisnahe Ausbildung naturgemäß größer als an Universitäten, die den Schwerpunkt eher auf Bildung setzen.
Gerade an Universitäten ist das Problem nicht so sehr die prinzipielle Bereitschaft der Professoren, sich der Lehre mehr anzunehmen, sondern das Anreizsystem: Wenn der berufliche Erfolg fast ausschließlich von der Forschung und Publikationen abhängt, wird Engagement in der Lehre damit implizit bestraft. Und Impact Points sind mit pädagogischen Schriften halt nunmal schwerer verdient als mit wissenschaftlichen Fachartikeln.
Viele Änderungen andererseits werden durch den Wunsch von Studenten angestoßen. Mit Fachschaften und Studentenvertretungen haben sie in den Hochschulgremien ja durchaus Mitspracherecht, und nutzen dies auch.
Digitalbildung und Persönlichkeitsbildung
Sebastian Haselbeck prangert hauptsächlich Mangel an digitalen Kompetenzen an. Das mag teilweise stimmen, doch macht es den Ingenieur tatsächlich besser, wenn er intensiv auf Twitter und Snapchat unterwegs ist?
Er schreibt: »Gleichzeitig müssen Führungskräfte grundlegende Fähigkeiten haben, um in einer vernetzten Welt bestehen zu können. Dazu gehört neben dem Wissen über die Digitalisierung auch kollaborative Arbeitsmethoden, ein aufgeklärtes Verhältnis im Umgang mit Maschinen, die Bereitschaft für lebenslanges eigenständiges Lernen […].«
Ja. Das Bestehen in der vernetzten Welt hängt wohl aber stark von der Persönlichkeitsbildung ab. Wer keine Prioritäten setzen kann, wer nicht an einer Aufgabe dranbleiben kann, wer sich nicht selbst organisieren kann, wer sich nicht selbst wahrnehmen kann, der hat es in der Tat schwer. Im Berufsleben und im ganzen Leben.
Das jedoch den Universitäten aufbürden zu wollen halte ich für grandios überzogen. Die Grundlagen zu erfolgreicher Selbstorganisation und Selbstwahrnehmung werden im Kindesalter gelegt, in Schule, aber zuallererst im Elternhaus.
Freilich wäre es schön, auch an Universitäten Persönlichkeitsbildung betreiben zu können. Das ist jedoch etwas ganz anderes, als Digitalbildung. Wer jedoch eine gute Persönlichkeitsbildung erfahren hat, wird sich ganz natürlich mit dem Digitalen leichter tun, einfach weil die digitalen Technologien dann als das wahrgenommen werden, was sie sind: Werkzeuge.
Interdisziplinarität
Interdisziplinäres Lernen wird ja gern und oft gefordert. Was aber ist die Voraussetzung, dass der Mensch eine Verbindung zwischen zwei oder mehr Disziplinen sehen und nutzen kann? Der Mensch muss zunächst in einer der Disziplinen zu Hause sein. Interdisziplinarität kann nicht heißen, von BWL keine Ahnung zu haben und von Ingenieurwesen keine Ahnung zu haben, aber beides irgendwie zu machen. Wer aber beispielsweise im Ingenieurwesen zutiefst beheimatet ist, und die Mathematik voll verstanden hat und anwendet, der kann sich auch der Verbindung zu einem anderen Fach zuwenden.
Wer sich also beschwert, er müsse »innerhalb weniger Monate meine gymnasialen Mathematikkenntnisse auffrischen, einfach nur, weil es in der Studienordnung stand«, der lehnt die Grundlagen des Fachs ab. Die Mathematik ist natürlich seit Jahrzehnten die gleiche, Gottseidank. Doch selbst hier kann – wer hinsieht – eine Veränderung in der Lehre wahrnehmen. Die Inhalte bleiben freilich, doch gibt es viele Studiengänge, die standardmäßig mit Werkzeugen wie MATLAB die Mathematik erfahrbar machen.
Wer soll die Brücke konstruieren, über die Sie täglich fahren? Der Ingenieur mit hervorragenden Mathematikkenntnissen, oder derjenige, der fit in Blogs und Snapchat ist?
Humboldt
Wir möchten also mehr digitale Bildung und mehr Persönlichkeitsbildung im Studium haben? Entfallen dafür andere Inhalte, oder wird das Studium länger?
Ich stimme Sebastian Haselbeck bei vielem zu:
- Jeder Uni-Absolvent sollte von Urheberrecht und von Creative Commons Lizenzen gehört haben.
- Jeder Uni-Absolvent sollte Grundlagen der Buchführung anwenden können.
- Jeder Uni-Absolvent sollte sich und andere organisieren können.
- Jeder Uni-Absolvent sollte mit anderen Fachgebieten zusammenarbeiten können.
Nichts davon hat nur mit Digitalisierung zu tun.
Somit hat Haselbeck seinen Artikel richtig betitelt: »Der Digitale Wandel an den Hochschulen – eine Themaverfehlung?« Es ist in der Tat eine Themaverfehlung, denn es geht nicht um den Digitalen Wandel. Es geht letztendlich um das Humboldtsche Ideal der Gesamtbildung junger Menschen.
Die Lösung für die Zukunft könnte in der Vergangenheit liegen, in dem die Humboldtsche Allgemeinbildung wieder einen größeren Stellenwert bekommt. Nur dass Allgemeinbildung heute eben andere Themen beinhaltet als vor hundert Jahren.
Es stimmt, was Haselbeck schreibt: Der Föderalismus hilft nicht gerade, die strukturelle Misere der akademischen Bildung in Deutschland zu lösen, da man immer sechzehn mal anfangen darf.
Beginnen
Es beginnt immer beim Einzelnen. Wir können nicht andere Menschen ändern, sondern nur uns selbst. Wir selbst sind Vorbild, und wir formen durch uns selbst die äußeren Gegebenheiten.
Keiner von uns kann im Handstreich das Bildungswesen ändern.
Beginnen wir doch bei uns selbst.
- Junge Menschen, nehmt Euren Bildungserfolg selbst in die Hand!
Ihr wollt Projekte stemmen lernen? Dann macht bei einem ernsthaften studentischen Wettbewerb mit, wie beispielsweise Formula Student. - Lehrschaffende, nehmt Eure Freiheit der Lehre wahr!
Ihr wollt die besten Studenten haben und die besten Absolventen erschaffen? Dann fordert und fördert ihre Eigenständigkeit und Exzellenz. Ein Projektseminar ist viel Arbeit, doch der Spaß als Lehrschaffender ist deutlich größer als beim drölfzigsten Durchlauf derselben Vorlesung. - Eltern, nehmt Euren Erziehungsauftrag ernst!
Ihr wollt fähige Kinder haben? Persönlichkeitsbildung beginnt mit Tag 1, und wird durch Vorbild gelebt. Nur wer zu Hause liest, diskutiert und zusammen arbeitet, darf nachher selbstständiges Lernen, Abwägen und Teamarbeit erwarten. - Wähler, nehmt Eure demokratischen Pflichten ernst!
Ihr wollt, dass die Politik im 21. Jahrhundert ankommt? Wenn ich immer nur Juristen, BWLer und Berufspolitiker wähle, egal ob in der Kommune, im Land oder im Staat, darf ich mich nicht über digitalfeindliche Rahmenbedingungen wundern. Bei der nächsten Wahl mal etwas auf die Berufe der Kandidaten achten, und den Ingenieur, Naturwissenschaftler oder Informatiker wählen.
Wie immer gilt: Sie müssen mir nichts glauben. Wenn Sie noch unsicher sind, oder nicht glauben, was sich alles in Sachen praxisbezogene Bildung an Universitäten tut, dann machen Sie sich bitte selbst ein Bild:
Am 10. Mai finden Sie mich auf der MATLAB Expo in München, wo wir einen eigenen Track für Belange der Forschung und Lehre haben, und eine große Postersession. Schauen Sie vorbei und reden mit den Leuten!
Was werden Sie tun?
Ich habe das große Glück, ein ganzes Team leiten zu dürfen, dass die akademische Bildung in Europa verbessern hilft, und somit den Hauptteil meiner Zeit damit verbringe, die Position der Bildung in Europa zu stärken.
Was werden Sie tun?
(also außer auf die MATLAB Expo zu kommen)
Lassen Sie die anderen Leser ebenso wie mich bitte teilhaben an Ihren Gedanken und kommentieren Sie!
Literatur
Die initialen Links sind oft auf Bereiche meiner Arbeit. Von dort aus führen Links auf konkrete Materialen an Universitäten.
- Formula Student Germany und die MATLAB & Simulink Racing Lounge
- Projektbasiertes Lernen am Beispiel Signalverarbeitung
- Algorithmisches Denken: Why Integrate computational thinking into a 21st century curriculum
- Machine Learning
- Agenda MATLAB Expo Deutschland, 10. Mai 2016
Ab diesem Artikel werde ich für die nächsten Monate auf einen 14-tägigen Rhythmus umstellen, nach über 2 Jahren im harten Wochentakt. Sie haben mich in den letzten Wochen und Monaten vielfach nach mehr Hilfe in Sachen E-Mail gefragt, und dem werde ich mich nun zuwenden. Dazu demnächst mehr – exklusiv nur im Newsletter, nicht im Blog.
Photo: Courtesy Jonathan Ernst on Flickr, License Creative Commons Attribution Share-Alike
Disclosure: Ich arbeite bei MathWorks, dem Hersteller von MATLAB & Simulink, und verdiene meinen Lebensunterhalt durch die Fähigkeit der Software, bei der Lösung einiger der beschriebenen Aufgabenstellungen zu helfen. Dieser Artikel gibt meine persönliche Meinung wieder und stellt keine offizielle Verlautbarung dar.
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