Die eigene Sichtweise macht die Realität aus

Es ist zwar schon Mitte Januar, doch ich bekam einige Fragen, wie ich denn meinen Jahresanfangs-Tweet gemeint hätte, den ich als Jahresspruch auch per Audiobotschaft meinen Mitarbeitern sandte (was diese sehr begrüßten). Dieser lautete:

»Das neue Jahr unterscheidet sich vom alten dadurch, was du daraus machst. Es wird nicht ein gutes Jahr, sondern du machst es zu einem Guten.«

Was ist aber nun mit Gegebenheiten, die wir nicht beeinflussen können? Gibt es denn nicht Ereignisse, Entscheidungen und Erfahrungen, die uns zuteil werden, ohne dass wir sie verändern können?

Was ist Ihre spontane Reaktion auf meine Behauptung?

Wir können vieles tun.

Zunächst gilt: Handeln ist seliger denn reden. Es kommt durchaus aufs machen an. Wir können mehr beeinflussen, als wir denken. Natürlich haben unsere Handlungen wiederum Nebenwirkungen, die es zu bedenken gilt. Jemand, der sich steuerlich sehr stark belastet fühlt, könnte auswandern. Nebenwirkungen: vollständige Änderung des Lebens. Oder er hinterzieht Steuern. Nebenwirkungen: Damit macht er sich strafbar und riskiert entsprechende Strafen. Oder, wenn ihm eben wichtig ist, nicht viel Steuern zu zahlen, aber nicht wichtig ist, viel Geld zu besitzen, dann spendet er im großen Stil. Nebenwirkungen: ein gutes Gewissen.

Es gibt Ereignisse, die wir nicht beeinflussen können.

Ja. Die gibt es. Zum Beispiel im Beruflichen. Der Kunde, den wir bei einer Softwareevaluierung lange begleitet haben, gibt den Zuschlag jemand anders, obwohl es die ganze Zeit gut aussah und wir positive Rückmeldung bekamen. Am Ende gab es dann vielleicht andere Gründe als technische Überlegenheit und ROI, die in der Struktur und der Historie gelegen waren. Macht es das Jahr zu einem schlechten? Nun, zur finanziellen Erquickung des Vertriebsbeauftragten trägt dieses Ereignis freilich nicht bei. Aber haben wir nicht gut mit dem Kunden zusammengearbeitet? Das war doch eine schöne Erfahrung. Der Kunde hat ein positives Bild von uns bekommen. Menschlich war das Projekt ein Gewinn. Die Mitarbeiter haben durch die Aufgabenstellung dazugelernt. Und der Blick für interne Abhängigkeiten auf Kundenseite schärft sich fürs nächste Mal.

Ist das nicht Schönrednerei? Ist das nicht das, was Politiker im Amt regelmäßig tun, um wiedergewählt zu werden?

Wahrnehmung ist nicht Realität.

Zwischen positiver Sichtweise und Schönrednerei ist ein Unterschied. Ein Schönredner negiert Negatives (!), ignoriert oder verdreht Fakten, um anderen etwas vorzumachen. Er wirkt also nach außen. Ein Mensch mit positiver Sichtweise wirkt nach innen, auf sich selbst. Er sucht nach positiven Aspekten, und benennt dennoch Nachteile.

Der Opfer-Typus beklagte sich bei einer einstündigen Zugverspätung : »Oh, diese Bahn. Immer kommen alle Züge zu spät. Jetzt musste ich so lange warten. Ach, das das immer mir passieren muss.«

Ein Schönredner sagt vielleicht »Ach, die paar Minuten, und rein statistisch fällt das bei meiner Reisedauer gar nicht ins Gewicht. Und bei den vielen Zügen, die fahren, kann ja mal was danebengehen.«

Der Mensch mit positiver Sichtweise sagt wahrscheinlich eher »Ja, der Zug war leider eine Stunde verspätet, die ich gerne schon zu Hause verbracht hätte. Gottlob saß ich schon im Zug und hatte meinen Computer dabei. So konnte ich meine Arbeit beenden, nutzte auf diese Weise die Zeit.«

Dieselben Fakten. Drei verschiedene Sichtweisen. Und die Sichtweise wirkt ja auch wieder auf die eigene Motivation zurück, wie Julia Sobainsky in ihrem Blog schreibt.

Viele fokussieren sich gerne auf die Schattenseiten einer Begebenheit. Das finde ich durchaus hilfreich bei Begebenheiten, die ich selbst beeinflussen kann, denn auf diese Weise kann ich aus eigenen Fehlern oder Fehlern anderer lernen. Bei Ereignissen, die außerhalb meines Einflussbereiches liegen, ist der Lerneffekt jedoch sehr begrenzt. Hier verfällt man leicht im Jammerei, die einen runterzieht und demoralisiert. Was habe ich also davon?

Was bewirkt es Positives in mir, über den verlorenen Kunden zu jammern? Was hilft es mir, übers Wetter zu jammern? Was hilft es mir, über einen Arbeitsprozess in der Firma zu jammern, den ich nicht ändern kann? Nichts. Warum sollte ich dann die Begebenheit so sehen?

Roland Kopp-Wichmann hebt im Beitrag über die Wahrnehmung der Welt besonders den Unterschied zwischen Realität und Wahrnehmung hervor, und weist darauf hin, dass »unser Modell von der Welt, das unser Gehirn entwirft, richtig ist […], wenn das Modell für uns funktioniert«. Ich möchte noch weiter gehen und meine, dass wir durchaus in der Lage sind, unsere Sicht der Dinge zu beeinflussen. Dazu empfehle ich auch meine Buchbesprechung zu »Wie wirklich ist die Wirklichkeit« von Paul Watzlawick, welcher den Konstruktivismus einem breiten Publikum bekannter gemacht hat. Und Artarra legt uns in ihrem Blog den Vorteil von Enthaltsamkeit bei Nachrichten dar.

Ich habe immer die Wahl, wie ich etwas bewerte.

Egal was geschieht: Wie ich diese Realität wahrnehme, ist meine Sache. Und dadurch kann das Jahr schon besser werden.

Also, werde ich etwas genauer (was nun nicht mehr in einen Tweet passt):

Das neue Jahr unterscheidet sich vom alten dadurch, was du daraus machst und wie du es siehst. Es wird ein gutes Jahr, wenn du dein Möglichstes dazu tust und alles andere neugierig und positiv aufnimmst.

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Kommentare

4 Antworten zu „Die eigene Sichtweise macht die Realität aus“

  1. Danke für den interessanten Artikel. Ich sehe das ähnlich, auf die sichtweise kommt es an.

    Und: Zwischen Reiz und (meiner) Reaktion gibt es einen Raum, in dem ich meine Reaktion überlegen kann.

    Danke und ich freue mich auf weitere Beiträge hier (habe mir jetzt den RSS-Feed aboniert)

    Oliver Rumpf

    1. Ja, dieses Konzept, Reiz und Reaktion aufzubrechen habe ich bei Prof. Heinz Ryborz
      vertieft, der dies sehr schön bildlich erklären kann.

      Danke!

  2. Ich würde im letzten Satz sogar das „Jahr“ durch „Tag“ ersetzten. Wir können schlussendlich jede Minute selbst entscheiden, wie wir unser Leben empfinden möchten. Wenn uns eine Situation nicht gefällt, kann man entweder versuchen, die Situation zu ändern oder seine Einstellung dazu – letzteres ist meistens einfacher :-) Ich finde den Artikel klasse aufgebaut – gerade durch die „Behauptung“ am Anfang und die Erklärungen danach!
    Liebe Grüsse
    Ariana

    1. Danke, Ariana, ich gebe Dir Recht. Das Jahr besteht aus vielen kleinen Momenten, in denen wir uns immer wieder aufs neue entscheiden können, was wir damit tun möchten.
      Und oft erscheint es sogar leichter, etwas zu unternehmen, während es langfristig vielleicht bei manchen Dingen zwar schwerer ist, an seiner Einstellung zu arbeiten, jedoch zielführender.

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