Was, wenn nicht alle Menschen in allen Lebenslagen bestimmte Gedankengänge nachvollziehen, geschweige denn produzieren können? Was, wenn Coaching, das nur mit Selbst-Lösung arbeitet, nicht effektiv für alle ist?
Und vor allem was, wenn es ganz verschiedene Arten zu Denken gäbe, die jedoch einseitig völlig inkompatibel wären?
Ohne, dass sie es vermutlich beabsichtigte, hat mir Svenja Hofert das Handbuch zu meiner Frau – Der Frau – geschrieben. Bevor ich mit der Buchbesprechung von „Hört auf zu coachen!: Wie man Menschen wirklich weiterbringt“ beginne, möchte ich Svenja Hofert dafür danken. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand diese Brillanz so treffend in Worte fassen kann, ohne sie überhaupt zu kennen.
Flexibles Coaching
Worum geht es vordergründig: Svenja Hofert propagiert Flexi-Coaching, das die Art und Weise des Coachings deutlich mehr an der Individualität des Coachees fest macht, als sich an Methoden und Werkzeugen abzuarbeiten. Sie tut dies, weil Menschen eben unterschiedlich sind und aufgrund ihrer Entwicklungsstufe auf manche Arten von Coaching gar nicht ansprechen können.
Ein Coach soll ja nach der reinen Lehre keine Lösung vorgeben, da im Coachee ja alle Lösungen bereits drin wären. Coaching ist demnach eine Begleitung, ein Spiegeln von außen, jedoch ohne inhaltlich Stellung zu beziehen.
Svenja Hofert hält dies für wenig hilfreich, wenn der Coachee mit dem Spiegeln nichts anfangen kann. Es gibt Coachees, die brauchen mehr direkte Führung, konkretere Lösungen und ab und an eben nicht den reinen Coach, sondern auch mal einen Berater, einen Lehrer, einen Trainer – übrigens die wörtliche Bedeutung des englischen Begriffes Coach im sportlichen Kontext.
Wer sich als Coach also immer nur auf die „ich rate nix, sondern kitzele die Lösung aus dem Coachee“-Position zurückzieht, nimmt damit an, dass alle Menschen in ihrer derzeitigen Phase fähig wären, diese Lösung zu erdenken, zu formulieren, und auch noch umzusetzen. Hier setzt Hofert an und schreibt, es wäre eben völlig in Ordnung, wenn das nicht alle Menschen hin brächten. Tatsächlich könnten das eher wenige, doch dazu später mehr.
Für viele der Coaching-Praktiken sind bestimmte Voraussetzungen gegeben, sowohl seitens des Coaches, auf jeden Fall auch des Coachees. Erfüllt ein Coachee diese Voraussetzungen nicht, nutzt ihm das Coaching wenig bis gar nichts, sondern frustriert eher.
Für fünf verschiedene, aufeinander aufbauende Entwicklungsstufen, auch Phasen genannt, schlägt sie einen Satz an besser passenden Fragestellungen und Methoden vor, wie schon in ihrem Buch „Was sind meine Stärken?“
Die fünf Entwicklungsphasen nach Hofert
Svenja Hofert stellt in „Hört auf zu Coachen!“ fünf Entwicklungsphasen oder auch Modi vor, die auf Forschungsarbeiten zur Stufeneinteilung von Denkweisen basieren, nämlich von Jane Loevinger (9 Stufen), Susanne Cook-Greuter (10 Stufen), Robert Kegan (6 Stufen). Anders als diese nennt sie ihre Einteilung explizit nicht „Stufen“, da dies sehr leicht als Wertung aufgefasst werden kann, so dass jemand auf einer niedrigeren Stufe sich benachtteiligt fühlt gegenüber Menschen mit einer höheren Stufe.
Hoferts Phasen oder Modi sind abwärtskompatibel, nicht jedoch aufwärtskompatibel. Jemand, der sich in der Richtig-Phase befindet, kann im Modus Richtig agieren, als auch in Wir und Ego, nicht jedoch in Effektiv.
Aus ihrer sehr detaillierten Beschreibung und Tabelle ist für die folgende Auflistung lediglich die Spalte der Handlungslogik aufgeführt und ein Satz, der mir besonders in der Beschreibung auffiel.
- Ego-Phase: „Ich nehme mir, was ich brauche“. Es besteht eine starke Impulsorientierung, also eher daran, was gerade als direkter Trieb gesehen wird.
- Wir-Phase: „Ich möchte dazugehören“. Das Gruppendenken ist genau in diesem Modus beheimatet. Es gibt eine In-Gruppe und eine Out-Gruppe, gegen die man sich abgrenzt. Es „steht die Gemeinschaft als identitätsstiftendes Element im Vordergrund.“
- Richtig-Phase: „Ich möchte kompetent/ein Individuum sein“. Hier gibt es oft sehr großes Leistungsstreben und Pflichtbewusstsein. In dieser Phase kann man erfüllt sein ganzes Leben verbringen, sie ist „stabil“.
- Effektiv-Phase: „Ich möchte etwas Sinnvolles erreichen“. Diese Menschen haben „eigene Wertvorstellungen, die weitestgehend von anderen unabhängig sind.“
- Flexibel-Phase: „Ich möchte flexibel im Denken sein und mich entwickeln“. Hier steht die Erkenntnis, dass es viele Wahrnehmungen der Realität gibt, und dass die eigene gleichwertig neben anderen steht.
Phasen 1-4 sind konventionelle Phasen, die Phase 5 ist postkonventionell. Diese Menschen denken und handeln nach völlig anderen Prinzipien. Nach der Flexibel-Phase haben Loevinger-Binder noch drei Phasen angesiedelt, die jedoch nur einen kleinen Bruchteil der Bevölkerung ausmachen: systemisch, integriert und fließend. Die letzten beiden Phasen charakterisieren weniger als 1% der Menschen.
Ich interpretiere das so, dass Menschen in der Flexibel-Phase sich Paul Watzlawicks radikalem Konstruktivismus voll und ganz bewusst sind, und dies für alle Menschen anerkennen. Hier gibt es ein sowohl als auch. Es ist ein sehr ganzheitliches Denken, das sich selbst und die Mitmenschen in ihren jeweiligen Systemen wahrnimmt.
Natürlich ist das nur ein Modell, und wir wissen ja, dass Modelle Landkarten sind und die Landkarte nicht das Gelände ist. Doch erlaubt mir eine Landkarte eben, die Struktur von Gegenden zu sehen, in denen ich entweder gerade nicht bin, oder in denen ich noch nie war.
An dieser Stelle könnte ich noch ganz viele Augen öffnende Passagen aus Svenja Hoferts „Hört auf zu Coachen!“ zitieren, doch möchte ich nur eine ganz starke Lesempfehlung aussprechen.
Mind Blowing
Nach einem passenden deutschen Begriff zu mind-blowing habe ich eine Weile gesucht, aber keinen gefunden. Unglaublich trifft es nicht, weil ich es ja glauben kann. Mind-Blowing ist das Buch für mich, weil es mir eine Begriffs- und Deutungswelt liefert, die ich bislang nicht hatte.
Für mich ist „Hört auf zu Coachen!“ eben wegen des Modells in der Kategorie mind-blowing, denn ich hatte vorher keine konsistente Erklärung zu dem, was mir Die Frau bedeutet. Für mich selbst fällt es mir schwer, mich einzusortieren.
Verbunden mit den Hinweisen zum Coaching-Verständnis, das für die jeweiligen Phasen hilfreicher oder weniger hilfreich ist, fand ich in diesen knapp 250 Seiten so viel Inhalt und Aha-Momente wie selten in einem Buch.
Die grundsätzliche Erkenntnis, dass es verschiedene Arten von Denk-Logik gibt, die hatte ich schon vorher. Nur hatte ich nicht dieses Vokabular dafür, das Hofert bietet. So ist denn auch ein erklecklicher Teil des Buches der Erörterung der verschiedenen Denk-Logiken gewidmet.
Ein Merkmal der Phasen in ihrer Erscheinungsform der Modi ist gerade die abwärtskompatibilität. Diese besagt, dass sowohl jemand sich in einem Modus befinden kann, der vor seiner Maximal-Phase liegt, als auch, dass sich jemand so ausdrücken kann, dass es Menschen in einer Vor-Phase verstehen. Das für mich zentrale fasse ich wie folgt zusammen:
Die meisten Menschen können einen Gedankengang von Roger Willemsen gut finden, manche auch nachvollziehen. Sie können jedoch keinen solchen Gedankengang selbst produzieren. (Das findet sich so nicht im Buch.)
Das Buch ermutigt mich, für die Zukunft noch einen weiteren Artikel vorzusehen, in dem ich – Einverständnis und Unterstützung durch Die Frau™ vorausgesetzt, etwas über unser beider Begriffsmodell für schreibe.
Die fünf Phasen nach Hofert ganz kurz für mich zusammengefasst:
ich brauche – ich muss – ich sollte – ich will – ich werde
Mir läuft der kalte Schauer den Rücken hinunter, wenn ich nur an das Phasenmodell und dessen Möglichkeiten und Wirkmächtigkeit denke. Tatsächlich gibt es nicht viele Bücher, die bei mir gleich derart fühlbare Reaktionen hervorrufen. Erinnern kann ich mich nur an zwei Bücher, die für mich derart eine Offenbarung waren: Gunter Duecks Topothesie/ Omnisophie, und Stephen Coveys 7 Habits of Highly Effective People.
Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Die Frau™ ein Mensch in der fünften Phase ist. Dabei fällt mir auf, dass die Phasen tatsächlich als Modi funktionieren. Nur dass – anders ich es bei Svenja Hofert verstehe – man nicht immer den Modus bewusst wählen kann. So geschieht es auch, dass Die Frau – deutlich in der Flexiblen Phase oder darüber hinaus – auch mal in einem bestimmten Kontext in den Richtig-Modus oder Wir-Modus verfällt, wie sie selbst sagt. Das nimmt sie wahr, ebenso wie die Schwierigkeit, diesen Modus-Wechsel zu vermeiden.
Flexibles Coaching und flexible Führung
Nun bin ich kein Coach im engeren Sinne. Meine Tätigkeit als Führungskraft hat Coaching-Anteile, auch wenn das oft wegdiskutiert wird. Man solle als Führungskraft nicht coachen, sondern eben führen. Ich sehe das differenzierter. Freilich ist es weder meine Aufgabe, noch meine Profession, an den Leuten herumzudoktern. Dafür bin ich nicht ausgebildet, schon gar nicht, wenn es in therapeutische Maßnahmen geht. Und doch bin ich dafür da, Potentiale zu erschließen, und die mir anvertrauten Menschen zum Erfolg fürs Unternehmen zu führen. Das hat nunmal Coaching-Anteile.
Führungsstile gibt es viele, die von der Person des Führenden abhängen. Im situativen Führen haben wir alle gelernt, dass Führung im Blick haben sollte, wen ich gerade vor mir habe. Dabei hilft mir dieses Modell sehr gut, ebenso wie die neulich besprochenen elementaren Kommunikationstypen von Isabel García. Es geht mir darum, den anderen Menschen zu sehen. Mit all ihren Gedanken, Wahrnehmungen. Das ist deutlich mehr als nur situatives Führen.
Und auf einmal erscheint alles so logisch. Ja, der andere muss ja geradezu so handeln aufgrund seines spezifischen Weltbildes. Meine Wirksamkeit kann also im selben Maße steigen, in dem ich die Wahrnehmungswelt meines Gegenüber besser ergründe.
Das hat nichts mit Emo-Führung zu tun. Auch nichts mit Feelgood- oder Kuschelführung. Sondern eher mit Respekt. Mit Respekt, den anderen als Individuum, als einzelnen Mensch wahrzunehmen.
Beruflich ist dieses Wahrnehmen ebenso relevant wie privat, und an manchen Tagen leichter als an anderen.
Schreibstil und Layout
Svenja Hofert kann ich lesen bis zum Umfallen. „Hört auf zu Coachen!“ ist aus meiner Sicht sehr klar und prägnant geschrieben. Sie benutzt viele Beispiele und Geschichten aus ihrer Coaching-Praxis, die das theoretische Fundament anschaulich und erlebbar machen. Manche der Beispiele sind direkt als Dialoge aufgeschrieben. Auf diese Weise ist das Buch für mich sehr gut verdaulich.
Die gedruckte Ausgabe ist wunderbar gesetzt, mit Geschichten in blauer Schriftfarbe, mit tiefergehenden Erläuterungen und Zusammenfassungen in abgesetzten hinterlegten Kästen. Auch die Überschriften sind in blau gehalten, was dem Buch eine besondere Note verleiht.
Ein Selbst- und Fremd-Assessment-Teil ist optisch deutlich abgesetzt mit leicht blauer Randfarbe, auch toll gemacht. Das wirkt wie ein Bonus im Buch.
Mit nur zwei Druckfarben wurde hier ein optisch sehr ansprechendes Werk erschaffen.
Klare Leseempfehlung
„Hört auf zu Coachen! Wie man Menschen wirklich weiterbringt“ von Svenja Hofert ist für mich eine dreifach donnernde Leseempfehlung mit Prädikat mind-blowing. Lies dieses Buch. Egal ob Coach oder nicht.
Photo: Joachim Schlosser, License Creative Commons Attribution Share-Alike
Schreiben Sie einen Kommentar