Tafelanschrift

Begabten­förderung – Eliten­förderung? 15 Gründe, warum unsere Gesell­schaft Begabte und Benach­teiligte fördern muss.

Was ist Begabtenförderung? Was ist Elitenförderung? Wie sieht es mit Förderung benachteiligter Schüler aus? Inwiefern benachteiligt? Und was braucht unsere Gesellschaft?

Der junge Spiegel-Autor Bernd Kramer hat unter dem Titel »Unsinn der Elitenförderung« einen Kommentar geschrieben zum Plan der Kultusministerkonferenz, sich mehr in der Begabtenförderung zu engagieren.

Für ihn bedeutet die Förderung von Begabten in erster Linie die Unterstützung ohnehin reicher Familien, und ist deshalb verdammenswert. Was für ein Unsinn.

Tanja Gabriele Baudson hat dazu eine sehr gute Erwiderung gebloggt, auch sind ausnahmsweise viele Kommentare unter dem Spiegel Online-Artikel lesenswert.

Die Art, wie Bernd Kramer Begabung und Reichtum in einen kausalen Zusammenhang setzt und Förderung von Begabten und Schwachen gegeneinander ausspielt, lässt mich mit offenem Mund an seinem Intellekt zweifeln.

Förderung?

Förderung hat viele Gesichter. Meist wird in finanziellen Strukturen gedacht, in Programmen und Zusatzveranstaltungen. Förderung kann schulisch geschehen ebenso wie außerschulisch. Man kann eine ganze Gruppe mit der Gießkanne fördern, oder sehr gerichtet auf das Individuum. Eine Förderung kann im Regelunterricht erfolgen, oder in separaten Angeboten. Eine Förderung kann auch durch das Trennen einer Klasse erfolgen.

Bernd Kramer weist am Ende seines Kommentars, dass diejenigen, die nicht für Begabtenklassen in Frage kommen, in gemeinsamen Klassen stark von eben diesen begabten Mitschülern lernen können.

Das ist jedoch keine Förderung der Schwachen, sondern geistige Misshandlung der begabten Schüler. Mit welchem Recht muss sich eine Schülerin zum fünften Mal einen mathematischen Vorgang anhören, die ihn bereits beim ersten Mal komplett durchdrungen hat und ausführen kann? Was hilft das dem Mitschüler, der diesen Stoff in der vermittelten Art und Weise auch beim zehnten Mal nicht versteht?

Was bedeutet begabt, und was bedeutet hochbegabt?

Tanja Gabriele Baudson verdeutlicht das mit dem IQ-Modell: 100 ist der Durchschnitt. Es gibt ebenso viele Menschen, deren IQ darüber liegt, wie Menschen, deren IQ darunter liegt. Hochbegabt gilt man ab einem Wert von 130. Aber Begabtenförderung beginnt schon deutlich vorher.

Begabung meint meinem Verständnis nach die prinzipielle Leistungsfähigkeit der Hardware Hirn. Die Hardware allein sagt noch nichts darüber aus, wie sich der Mensch verhalten wird. Das macht das Betriebssystem und die Programme, die auf der Hardware laufen. Beim Menschen bilden eigene Persönlichkeit, Elternhaus, Schule und das Umfeld das Betriebssystem und die Anwendungen.

Tanja Gabriele Baudson schreibt ganz passend dazu: »Wer schlau ist, aber faul, bekommt unter Umständen schlechtere Noten als jemand, der nicht so schlau ist, aber fleißig. (In einem Wertesystem, das Arbeitsmoral schätzt, ist es auch vertretbar, diesen Faktor in die Note einfließen zu lassen.)«

Hochbegabung kommt in allen Bevölkerungsschichten, in allen Arten von Elternhaus vor. Nur leider werden diese Kinder oft nicht erkannt und verkümmern. Das ist das Problem. Reiche Familien haben keineswegs öfters begabte Kinder, hier werden diese nur öfters erkannt. In bildungsfernen Elternhäusern werden Begabte und Hochbegabte eben öfters verkannt und nicht gefördert. Möchte der Spiegel-Kommentator wirklich solche Kinder benachteiligen, indem er ihnen Förderung verwehrt?

Leider bedeutet Hochbegabung nicht, dass das Hirn des Kindes so wie alle anderen läuft bloß schneller, sondern tatsächlich anders funktioniert.

Die Wahrnehmung kann anders laufen, der Denkvorgang unterscheidet sich, die persönliche Art, an Aufgabenstellungen heranzugehen. Der Hochbegabte hat vielleicht eine fürchterliche Arbeitsweise, kann schwer bei der Sache bleiben und braucht besonderes Training für Ordnung. Dafür versteht er Multiplikation halt schon beim ersten Mal, oder noch davor.

Diese Andersartigkeit ist in einem Schulsystem, das auf die durchschnittliche Art zu denken und wahrzunehmen ausgerichtet ist, nicht eben hilfreich. Vor allem, wenn Lehrer nicht unterscheiden zwischen Hochbegabtem und Hochleister.

Hochbegabte sind nicht gleich Hochleister!

Ein Hochleister frühstückt vorgelegte Standardaufgaben flott und fleissig ab. Hochleister haben eine gute bis sehr gute Aufmerksamkeitsspanne und eine hohe Arbeitsgeschwindigkeit.

Sie sind die Lieblinge von Lehrern, weil sie ohne großen Aufwand zu beschulen sind. Sie laufen ohne besondere Anstrengung des Lehrers mit und schreiben gute Noten.

Natürlich gibt es auch hochbegabte Hochleister. Das ist jedoch die Schnittmenge zweier Gruppen, und damit selten. Ebenso gibt es auch minderbemittelte Hochleister.

Beide kommen im jeweils passenden Schultypus sehr gut zurecht.

Was ist denn nun ein Schwacher?

Bernd Kramer schreibt in seinem Artikel fortwährend von Schwachen. Er definiert nicht näher, welche schwachen er meint. Was zeichnet denn diese Gruppe von Schwachen aus? Es ist eine wohl ebenso vielfältige Gruppe wie die Hochbegabten. Die Schwäche kann sich beispielsweise zeigen in:

  • Sprachschwierigkeiten, bisweilen auch mit Migrationshintergrund,
  • einem bildungsfernen Elternhaus,
  • vermittelter Angst vor Schule (siehe mein Artikel »Wo die Angst vor Mathematik in der Schule herkommt… – Teil 2«)
  • einer Lernschwäche,
  • einem niedrigen IQ,
  • Denk-Faulheit (anerzogen, nicht angeboren!),
  • einer Behinderung – in Ermangelung eines ähnlich inkludierenden Wortes, dass sowohl geistige als auch körperliche Beeinträchtigung anerkennt.

Jeder dieser Aspekte für sich kann eine Beeinträchtigung darstellen, die ein schulisches Vorankommen erschweren und ohne besondere Hilfe eine akademische Ausbildung deutlich schwieriger zu erreichen machen.

Ich spreche absichtlich nicht von Erfolg. Erfolg im Leben hängt nicht von der Akademisierung ab.

Die Möglichkeiten, die sich einem Kind auftun, hängen aber wohl davon ab, ob es in der Entfaltung seiner Persönlichkeit gefördert wird. Deshalb:

6 Gründe, warum wir schwache Kinder fördern müssen

  1. Grundgesetz Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
  2. Grundgesetz Artikel 2: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […].

  3. Allen Menschen soll die Teilhabe an der Gesellschaft möglich sein.

  4. Der Raum für ungebildete Arbeit wird immer kleiner. Roboter und Maschinen übernehmen immer mehr Aufgaben. Dies wird sich beschleunigen. Bildung ist ein Schlüssel für langfristiges persönliches Wohlergehen.

  5. Nachhaltig schwach gebildete Menschen laufen in einer Demokratie Gefahr, extremen Parolen zu verfallen. Die Kombination aus schwach oder stark gebildeten Extremen und schwach gebildeten Nachläufern stellt eine Gefahr für die Demokratie und die Gesellschaft dar.

  6. Gesellschaft und Wirtschaft benötigen gebildete Menschen – nicht nur Akademiker, sondern ebenso praktisch gebildete Menschen. Für Innovation ebenso wie für die menschenwürdige Pflege und Versorgung anderer Menschen.

9 Gründe, warum wir (hoch-)begabte Kinder fördern müssen

  1. Grundgesetz Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

  2. Grundgesetz Artikel 2: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […].

  3. Inklusion bzw. Integration gilt auch nach oben. Es ist ungerecht, einen Teil der Kinder nicht artgerecht zu fördern. (Zum Begriff »artgerecht« siehe Gunter Dueck.)

  4. Unsere Gesellschaft braucht Vordenker und Vor-Macher. Menschen, die durch Innovationskraft neuen Fortschritt schaffen, wirtschaftlich, kulturell, politisch, gesellschaftlich.

  5. Forschung, Entwicklung und Wissenschaft ist einer der Hautptreiber zukünftigen Wohlstands unseres Landes, in Ermangelung nennenswerter Bodenschätze.

  6. Unsere Wirtschaft braucht Menschen, die weiter denken können. Menschen, die neue Geschäftsmodelle ersinnen, Probleme kreativ lösen, Technologien produktiv umsetzen.

  7. Kinder, die intellektuell chronisch unterfordert und sozial chronisch überfordert sind, laufen eher Gefahr, sich mental aus der Gesellschaft auszuklinken und falsch zu fühlen. Gleichmacherei nach unten ist der Tatbestand der geistigen Verstümmelung.

  8. Begabte und hochbegabte Kinder fallen oft nicht als solche auf, sondern nur in den Bereichen, in denen sie hinter anderen her hinken. Eben weil das Elternhaus keine Rolle spielen sollte, brauchen diese Kinder Förderung.

  9. Wir können begabte Kinder nicht einfach täglich mit der Bratpfanne auf den Hinterkopf schlagen, nur damit sie keine Probleme machen und durchschnittlich werden.

Die nachfolgenden Generationen werden uns auch daran messen, wie wir sie als Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten erkannt haben.

Wie sehen Sie das?

Lassen Sie die anderen Leser ebenso wie mich bitte teilhaben an Ihren Gedanken und kommentieren Sie!

Photo: Jonathan Ernst/World Bank on Flickr, License Creative Commons NonCommercial Non-Derivatives

Teilen & Verweilen

Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert