…und warum Jungen & Mädchen in Mathematik gut sein können.
Wir alle kennen ja bisweilen Schüler, die Angst vor Mathematik haben. Vielleicht waren wir selbst ja solche Schüler. Zumindest solche, die Mathematik nicht mochten. »Hass«. »Panik«. »Keine Ahnung«.
Warum ist das so? Diese Frage halte ich für zentral, denn nur so kann man dieser Angst Herr werden. Und das wiederum ist essentiell für den Erfolg unserer Gesellschaft als gesamtes, denn: Mathematik ist in allem [13]. Im Handy (Sprachcodierung). Im Brot (Mengenverhältnis). Im Krankenhaus (Verdünnung von Lösungen). Im Auto (ABS, ESP, DSC – alles). In der Bank (Zinsberechnung, Risikobewertung). In der Soziologie, Psychologie (Statistik). In der Politik und jeder Firma (Haushalt, Buchhaltung). Am Bau (Volumenberechnung, Dichte, Statik). Nautik (Navigation anhand Sternen, GPS).
Mathematik ist omnipräsent in jeglicher weiterentwickelten Kultur. Mathematik dürfte mindestens den gleichen Stellenwert für unsere Entwicklung haben wie die Sprache und die Schrift. Wenn Mathematik derart durchdringend ist, warum tun sich dann augenscheinlich erhebliche Teile des Landes der Dichter und Denker so schwer damit [9], und warum wird nach wie vor mit eigenen mangelhaften Mathematikleistungen kokettiert [17]? Ich spreche hier nicht von höherer Mathematik, wie sie für manche Studienfächer benötigt wird, sondern von ganz normaler Mathematik bis zum Abitur [1]. Rechnen. Infinitesimalrechnung. Analysis. Geometrie. Stochastik (Wahrscheinlichkeitsrechnung).
Ich bin kein Mathematiker, kein Lehrer. Ich habe mit Mathematik bisweilen im Beruf zu tun, mittlerweile aber durch meine Funktion auch mehr vom Hörensagen als vom direkten tun. Aber ich bin Vater dreier Kinder, und bekomme immer wieder Nachhilfeschüler aller Jahrgangsstufen mit, die zu meiner Frau kommen.
Schauen wir uns also drei mögliche Gründe an.
1 Angst des Lehrers/ der Lehrerin
Meine Güte, jetzt haut er wieder auf die Lehrer ein, werden einige von Ihnen bereits jetzt denken. Nichts läge mir ferner, aber Ursachenforschung tut auch mal weh.
Wie viele Mathelehrer gibt es, die selbst latent oder offen Angst vor dem Stoff haben. Nicht vor jedem Stoff, aber vor bestimmten Inhalten. Ich habe derlei Lehrer erlebt. Lehrer, die Angst vor Trigonometrie hatten, denen bei Sinus und Cosinus unwohl wurde. Sehr verbreitet ist auch die Angst vor Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik.
Da gibt es den Lehrer, der nicht nur jede Rechnung, die er im Unterricht durchführen will, sauber zu Hause auf einen Zettel vorrechnet, sondern diesen Zettel dann mitbringt und sich an der Tafel an genau diesen Zettel klammert.
Liebe Lehrer, das sehen die Schüler doch! Wo soll bitte Zuversicht besonders der mittelmäßigen Schüler in das eigene Können herkommen, wenn sich schon der Lehrer bei ihm bekannten Aufgaben fast in die Hose macht?
Auch wenn es ohne den Zettel geht, gibt es einige Lehrer, die dünnhäutig auf Verständnisfragen oder weiterführende Fragen reagieren, weil damit sofort ihre vorbereitete Komfortzone verlassen wird. Diese Lehrer haben selbst Angst vor Teilen der Mathematik. Vielleicht haben sie selbst in der Schulzeit diese Angst schon gelehrt bekommen.
In einer Zeit, in der wir alle Möglichkeiten der Selbstreflexion haben, können wir diesen Teufelskreis durchbrechen! Lehrer sind Vorbilder, ob sie wollen oder nicht. Schüler übernehmen, ebenfalls ob sie wollen oder nicht, Ansichten und Gefühle ihrer Lehrer, wenn sie nicht resilient gegen diese Art äußerer Einflüsse oder von Natur aus interessiert am Stoff sind.
Lehrer, die Angst vor Mathematik haben, produzieren Schüler, die Angst vor Mathematik haben.
2 Ansicht der Mathematik als hohe Kunst
»Mathematik ist schwierig, weil es eine hohe Kunst ist. Es kann nicht anspruchsvoll sein, was sich leicht erklären lässt.« Diese Ansichten sind in Deutschland weit verbreitet, und nirgendwo wird das so deutlich wie im Lehren von Mathematik.
So mancher Lehrer, der sich entweder nie schwer tat mit Mathematik, oder der im Studium schließlich über einen bestimmten Punkt des Verständnisses hinaus kam, möchte seinen Schülern »dieses schwierige Fach« näher bringen. Und so strahlt er mit jeder Minute seines Unterrichts diese Schwierigkeit aus. Die Schüler, wie vorher bereits festgestellt, nehmen diese Ansicht an. Bei entsprechend mittelmäßigem Selbstverständnis zählen sie eins und eins zusammen (kleiner Scherz) und wissen: das ist zu schwierig für mich.
Ich behaupte, dass von einigen Lehrern diese Ansicht von Mathematik als hoher Kunst als Schutzschild missbraucht wird. Wenn ich sagen kann, die Schüler verstünden es eben nicht weil es ihnen zu schwer sei, dann brauche ich mich nicht in sie hineinzuversetzen, dann brauche ich von meinen Gewohnheiten nicht Abstand nehmen.
Und das, wo mittlerweile statistisch belegt ist, dass der Lernerfolg von Schülern am meisten von der Qualität des Lehrers abhängt [4, 5]. Nicht von der Klassengröße, nicht von der Höhe der Sachmittel und außerhalb Bayerns und Deutschlands auch nicht vom Bildungsgrad der Eltern.
Beispiel Wahrscheinlichkeit und Mengen
Nehmen wir eine Aufgabe aus der Stochastik, 11. Klasse Gymnasium [3]:
Bei einem Zufallsexperiment sind die Wahrscheinlichkeiten der beiden Ereignisse A und B bekannt: P(A) = 0,7 und P(B) = 0,8
a) Wie groß muss P(A ∩ B) mindestens sein? Wie groß sind dann P(A\B), P(B\A), P(A ∪ B) und P(Ā)?
b) Wie groß kann P(A ∩ B) maximal sein? Wie groß sind dann P(A\B), P(B\A), P(A ∪ B) und P(Ā)?
Klingt kompliziert? Dann sollten wir uns das ganze aufmalen:
a) Wenn nach einer Mindestgröße gefragt wird, suchen wir also die kleinstmögliche Schnittmenge. Im Bild heisst das die Teilmengen rutschen so weit wie möglich von einander weg, drücken sich ganz in die gegenüberliegenden Enden. Malen Sie die Teilflächen in verschiedenen Farben schwach an. Wenn Sie sich gar nicht überschneiden würden, bräuchten Sie die Fläche 0,7+0,8 = 1,5. Geht aber nicht, weil die Wahrscheinlichkeit ja maximal 1 sein kann. Also müssen Sie sich wohl um mindestens 0,5 überschneiden. Die restlichen Angaben lassen sich nun aus dem Diagramm ablesen und ausrechnen. P(A \ B) ist die Fläche von A ohne den Teil, der zur Schnittmenge gehört, P(B \ A) analog. P(A U B) ist eine Fangfrage, weil wir die Teilflächen so weit wie möglich auseinander gedrückt haben und sie somit die gesamte verfügbare Fläche einnehmen. Das Bild dazu: Belegen Sie eine Scheibe Brot mit einer Scheibe Schinken und einer Scheibe Käse, wobei beide Brotbeläge jeweils etwas größer als die Hälfte des Brotes sein sollten. Sorgen Sie ohne Falten oder Zusammenklappen dafür, dass möglichst wenig Käse über dem Schinken liegt.
b) Nun ändern wir die Situation und lassen die Teilflächen sich so weit wie möglich überdecken. Immer noch kompliziert? Vielleicht hilft ein Vergleich. Sei A=Bayern und B=Deutschland. Der Rest der Aufgabe lässt sich aus diesem Bild direkt ableiten. Oder, falls es ein noch einfacher zu visualisierendes Bild sein soll: Hauen Sie ein Spiegelei in die Pfanne. Das Eiweiß ist B, das Eigelb ist A.
Was fällt auf, wenn wir uns diese Aufgabe anschauen, außer das Stochastik leichter fällt, wenn man kein Veganer ist? Es gibt eigentlich nicht viel zu rechnen. Grundlage sind lediglich zwei Zahlen. Der Witz an dieser Aufgabe ist der folgende: Der Großteil der Aufgabe braucht keine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es ist Mengenlehre, wie sie in der vierten und fünften Klasse ausführlich behandelt wird. Kann jemand gut in Stochastik sein, der in Mengenlehre genullt hat? Kaum. Welche Zuneigung erfährt Mengenlehre in den frühen Jahren? Leider wenig. Dabei ist Mengenlehre das, was Kinder als erstes mit Mathematik in Berührung bringt. Sie sitzen am Boden mit drei Jahren und schätzen oder zählen Murmeln. Sie gucken, welcher Laubhaufen im Garten größer ist. Sie malen in der Schule Punkte in große Kreise. All das ist Mengenlehre, und ohne Mengenlehre keine Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Das schöne ist nun, dass sich fast alle Aufgaben aus der Stochastik im Gymnasium relativ leicht lösen lassen, wenn man sich das ganze aufmalt. Entweder als Mengen – in der Regel zwei sich schneidende Kreise in einem größeren Kreis – oder als Baum, wenn es sich um zusammengesetzte Ereignisse handelt. Ist diese Zeichnung erst einmal geschafft, lassen sich die Lösungen meist direkt an Pfaden ablesen und durch ausmultiplizieren und addieren ausrechnen. Mit ein bisschen mitdenken bekommt man sogar heraus, wann addieren und wann multiplizieren funktioniert.
Jedes Konzept der Mathematik in der Oberstufe ist nur eine kleine Erweiterung derer in Grundschule und Unterstufe.
Das ist umso bitterer, als beispielsweise in der Informatik viele Problemstellungen auf einfache Mengenlehre zurückgeführt werden können. Relationen? Mengenlehre. Boolesche Logik? Mengenlehre. Prädikatenlogik? Mengenlehre.
Vieles, was so kompliziert daherkommt, war schonmal da, ein halbes Jahrzehnt vorher, mit einfacheren Begriffen.
Souveränität der Lehrer
Wir brauchen Lehrer, die die Bedeutung der Mathematik für das Leben begreifen, und die die Einsicht leben, dass das Meiste an der Mathematik so kompliziert nicht sein kann, eben weil Mathematik so omnipräsent ist.
Wir brauchen Lehrer, die ihren Stoff souverän beherrschen, und die sich nicht zu fein sind, mathematische Sachverhalte in einfachen Worten zu erklären.
Wir brauchen Lehrer, die verstanden haben, dass es Schüler mit unterschiedlichen Denkmechanismen gibt, die ebenso unterschiedliche Denkmodelle benötigen. Siehe dazu auch die Hattie-Rangliste [4] und die Rede von Sir Ken Robinson [10]. Wir brauchen Lehrer, die Professionelle Intelligenz aufweisen, also Sinn geben und das Herz ansprechen können. [2, 12]
Auftritt Walter Hirt
Ich kenne solche Lehrer, und ich hatte das große Glück, mit Walter Hirt in der Oberstufe einen wunderbaren Mathematiklehrer zu haben. Stellen Sie sich einen Mathe-Sport-Lehrer vor. Mit grauen Haaren, mittelgroß, Seehund-Schnauzbart, einem breiten Kreuz und einem ebenso breiten Grinsen.
Walter Hirt ist geerdet, er ruht in sich selbst, und er weiß, von was er spricht. Da kommen alle drei guten Eigenschaften zusammen. Er musste niemandem etwas beweisen – außer er führte uns einen Beweis vor.
Er brachte uns die verschiedenen Bereiche der Mathematik nicht nur näher, sondern nahe. Wir lernten für vielerlei Aufgabenstellungen mehr als nur einen Lösungsweg, so dass für jede Denkart in unserem Kurs etwas dabei war. Fürs Gleichungslösen gab es die sichere Matrixmethode und den schnellen Gauss. In Stochastik gab es ganze Tafeln voller Mengendiagramme (»Eierdiagramm«), und ab und an bewarf er uns mit Kreide. Besondere Erklärungen widmete er einzelnen Schülern, inklusive Widmung an der Tafelanschrift. Man könnte meinen eine solche Widmung einer besonderen Erklärung wäre diskriminierend für diejenige. Ist es aber nicht, und wurde auch von denjenigen nicht als solche wahrgenommen. Wahr ist, dass Walter Hirt verstanden hat, dass unterschiedliche Schüler bisweilen unterschiedliche Denkmodelle haben und somit unterschiedliche Erklärungen schwieriger Sachverhalte brauchen.
Das war echter schülerzentrierter Unterricht. Nicht nur der Schüler musste sich auf das Denkmodell des Lehrers einstellen, nein, der Lehrer kam uns sehr weit entgegen, stellte sich auf uns ein. Diejenigen mit einem rechenorientierten Denken forderte er durch Lösungswege mit Abkürzungen, die mehrere Schritte in einem kombinierten heraus.
Natürlich kenne ich auch das Gegenteil. In der Mittelstufe wurden wir Zeuge eines pädagogischen Totalversagens eines Mathelehrers beim Thema Trigonometrie – das ist das mit Sinus und Cosinus – mangels eigenem Verständnis. Dazu gesellte sich ein mangelndes Selbstbewusstsein, was dazu führte, dass auch unser Klassenprimus wo immer möglich runterkorrigiert wurde. Der arme Mann hat später eine Kollegiatin gebeten, ihre Facharbeit etwas einfacher zu halten, damit er sie verstünde.
Zum 2. Teil dieses Artikels mit dem dritten Grund: Die Angst der Mutter. Er erschien am Mittwoch, den 12. Juni.
Literatur
(für diesen Teil 1 und Teil 2)
- [1]
Jürgen Baumert u. a. »TIMSS/III–Deutschland – Der Abschlussbericht Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse der Dritten Internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung am Ende der Schullaufbahn«. Berlin, Nov. 2000.
[2]
Gunter Dueck. Professionelle Intelligenz. Worauf es morgen ankommt. Springer, 2011.
[3]
H. Götz u. a. Lambacher Schweizer 11. Mathematik für Gymnasien. Stuttgart: Ernst Klett Verlag GmbH, 2009.
[4]
»Hattie-Rangliste:Einflussgrößen und Effekte in Bezug auf den Lernerfolg«. Visible Learning.
[5]
Doris Jäger-Flor u. a. »Bildungsbarometer zum Thema “Mathematik”«. Abschnitt 4.11 Wie gut können Lehrkräfte erklären. Zentrum für empirische pädagogische Forschung, 2008.
[6]
Roland Kopp-Wichmann. »Warum Mädchen niemals denken sollten sie wären für Mathematik unbegabt«. In: Persönlichkeitsblog (2010).
[7]
Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach. »Or Be Programmed«. In: Netzpiloten (2013).
[8]
»PISA 2009 – Ergebnisse – Mathematik«. OECD, 2009.
[9]
»Rechnen in Deutschland. Studie.« Stiftung Rechnen, Dez. 2009.
[10]
Ken Robinson. »How to escape education’s death valley«. TED Talk. Apr. 2013.
[11]
Andreas Schleicher. »Bessere Schulen mithilfe von Daten«. TED Talk. Juli 2012.
[12]
Joachim Schlosser. »Buchbesprechung zu Professionelle Intelligenz«. 2011.
[13]
Joachim Schlosser. »It‘s Math That Drives Things«. Dez. 2009.
[14]
Wolfgang Schmitz. »Im Alltagsrechnen sind Deutsche aus der Übung«. In: VDI Nachrichten 23 (7. Juni 2013), S. 2.
[15]
Christian Schroff. »Keine Panik! So vermeiden Sie Prüfungsangst«. In: Die Karrierebibel – Blog (10. Juni 2013).
[16]
Antje Schrupp. »Mal ein bisschen Mathe: Warum 50 Prozent nicht reichen«. In: Carta (2013).
[17]
Heinz-Elmar Tenorth u. a. »Mathematik entlang der Bildungskette«. Kap. Problematischer Status in der Bildungstheorie und in der Öffentlichkeit, S. 22. Aug. 2010.
Photo Credit: Jonathan Ernst, World Bank Photo Collection, on Flickr License CC-BY-NC
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