Sie kennen die Fernsehserie über den fiktiven Misanthrop Dr. House, den Arzt, der notorisch schlecht gelaunten Arzt, der zwar alle vor den Kopf stößt aber letztendlich in jeder Folge das schwierigste medizinische Puzzle löst.
Einer der Leitsätze von Dr. House lautet: »Alle Patienten lügen.«
Faszinierend daran finde ich: Im Vertrieb, im technischen Marketing, letztendlich in jedem Kundenkontakt ist das ein sehr nützliches und sinnvolles Mantra. Nicht nur für mich, sondern zum Besten des Kunden.
Schockiert?
Dann lesen Sie in diesem Artikel, warum das gar nichts schockierendes ist, und schon gar keine Anmaßung, sondern lediglich Konstruktivismus anders formuliert.
Lüge und die relative Wahrheit
Wir sind schnell dabei, eine Lüge darin zu sehen, dass Menschen bewusst eine Falschaussage tätigen. Wäre dem so, offenbarte das Dr.-House-Zitat »Alle Patienten lügen« tatsächlich ein zynisches Menschenbild.
Die Wahrheit ist (sic!): Menschen sagen auch dann falsch aus, wenn sie nicht alle Informationen haben, wenn sie lediglich glauben, etwas habe sich so zugetragen.
Paul Watzlawick schreibt in Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen., seinem Bestseller über den Konstruktivismus, dass jeder letztendlich seine eigene Realität erschafft.
Das heisst jedoch auch, dass die Realität eines Patienten nicht unbedingt die sein muss, die der Arzt sehen und erforschen kann.
Wieviele Menschen kennen Sie, die glauben sich gesund zu ernähren? Und wie viele von denen nehmen schädliche Dinge zu sich?
Wie auf House Wiki lesen, gibt es dafür einen Begriff, wenn das ausartet: Das Korsakow-Syndrom beschreibt eine Krankheit, bei der Erinnerungslücken an konkrete, kürzlich stattgefundene Ereignisse mit Erinnerungen aus früheren Episoden aufgefüllt werden.
Das Gehirn versucht also, eine Situation mit verfügbaren Erinnerungen zu erklären. Auch das gesunde Gehirn tut das, wenn wir nicht höllisch aufpassen. Schon allein die beliebte Falle zwischen Korrelation und Kausalität, auf der Homöopathie ebenso aufgebaut ist wie ganze Zeitschriftenimperien, führt uns vor Augen, wie leicht unser Gehirn plausible Erklärungen sucht, wenn die Fakten dazu fehlen.
Die fiktive Figur Dr. Gregory House nennt all die Inkonsistenzen zwischen der selbst wahrgenommenen Wahrheit und der faktischen Wahrheit Lüge.
Konstruktivismus als Grundannahme
Wir sind uns also einig, dass ich Konstruktivismus auch ausdrücken kann durch »Alle Patienten lügen.«
Das gilt nicht nur für Patienten, sondern auch für Kunden.
»Alle Kunden lügen.«
Spüren Sie diesem Satz mal nach. Verkrampft sich gerade Ihr Magen? Bekommen Sie schwitzige Hände und möchten gerne zu lesen aufhören? Ihre Zunge klebt trocken am Gaumen?
Das kommt daher, weil Sie gelernt haben, dass der Kunde immer recht hat und im Zweifelsfall immer recht bekommt.
Doch ebenso, wie es im Medizinischen Blödsinn ist, es dem Patienten immer recht machen zu wollen, ebenso ist es Blödsinn, es im Vertrieb dem Kunden immer recht machen zu wollen.
Denn alle Kunden lügen. Alle Kunden sehen die Realität mit Ihren eigenen Annahmen und Wahrnehmungslücken.
Diese eigene Wahrnehmung inklusive der Lücken kann eine nützliche Information sein, bildet jedoch nicht unbedingt das ab, was ist. Das ist Konstruktivismus.
Besser beraten mit Konstruktivismus
Wenn die Wahrnehmung des Kunden Lücken hat, wie nützlich sind dann seine eigenen Vorstellungen seiner Herausforderungen und deren Ursachen?
Wie nützlich ist für einen Arzt die Selbstdiagnose seines Patienten bei wirklich schwierigen Krankheiten?
Bei einfachen Krankheiten wissen wir in der Regel selbst ganz gut, um was es sich handelt, wie wir dazu kamen und wie die Behandlung aussehen könnte. Ebenso im Vertrieb.
Was aber, wenn die Ursachen tiefer gehen?
Wenn ich mit einem Programmierer spreche, der behauptet er hätte ein Problem mit Fehlern im C-Code wegen einer neuen Bibliothek, dann ist das nur seine Wahrheit. Ein Teil dieser Wahrheit ist das Symptom, nicht jedoch die Ursache.
Es ist auch gar nicht die Spezialität des Programmierers, die Ursache dafür herauszufinden, das ist Aufgabe des Applikationsingenieurs, der den Entwicklungsprozess verbessern möchte.
Der Programmierer sieht vielleicht nicht, wie die Spezifikation entsteht, und dass sie widersprüchliche Aussagen enthält. Er sieht nicht, dass die Spezifikation nicht simuliert und getestet wurde. Er sieht nicht, dass ein anderes Softwaremodul versehentlich in seinem Speicherbereich schreibt.
Fragen aufhören? Mitnichten.
Soll ich dann also aufhören, den Kunden zu befragen, um sein Problem zu verstehen?
Mitnichten (=Nein). Denn das, was der Kunde sagt, gibt mir ja zumindest einen Hinweis darauf, was er selbst schon herausgefunden hat. Egal ob das dann der Realität entspricht oder nicht.
Wichtig ist, dass diese Fragen nicht das Ende sind. Ich muss noch mehr Personen in der Organisation des Kunden befragen, ich brauche Proben, Beispieldokumente, Code. Neugierig bleiben und weiter fragen.
Und ich brauche Wissen über ähnlich gelagerte Fälle, das ich direkt anwenden kann, wie es im Challenger Sale beschrieben ist. Beim Schreiben der Buchbesprechung über The Challenger Sale kam mir übrigens auch die Idee zu diesem Artikel.
Besserer Service
Wenn wir also aufhören, unseren Kunden oder Patienten die Verantwortung für die korrekte Diagnose zuzuschieben und selbst anfangen zu denken, heisst das besseren Service.
Wenn ich analysieren kann, dass mein Kunde Produktkonfiguration X nicht braucht, dafür aber das Training für Modul Y, dann berate ich schlecht, wenn ich einfach seiner Aussage »Ich brauche X« zustimme.
Die Grundannahme »Alle Kunden lügen« ist mit Sicherheit nicht einfach. Weder für Sie, noch für Ihre Kunden. Doch sie führt zu besseren Ergebnissen.
Probieren Sie’s aus.
Und lassen Sie die anderen Leser ebenso wie mich teilhaben an Ihren Erfahrungen und kommentieren Sie unten!
Quellen
Foto: Joachim Schlosser (meine eigene Nase, gebrochen), License Creative Commons Attribution Share-Alike
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